Die
heutigen gesellschaftlichen Bedingungen lassen immer neue
Ballungszentren entstehen, noch aber leben die meisten Menschen der
Erdbevölkerung auf dem Lande oder in kleineren überschaubaren
Kommunen – in der Provinz. Sie bietet Heimat, mitmenschliche
Kontakte, Vertrautheit und Geborgenheit. Nach dem Motto „Glaube,
Heimat, Sitte“ spielt sich ein in Traditionen gegossenes Leben ab,
das sich mit lokalen Aspekten zufrieden gibt und globales
Hinterfragen kaum vermisst, es sogar verdrängt, obgleich
weltpolitische Ereignisse zunehmend in das provinzielle Leben
eingreifen. In der Regel zeichnet sich der Lokalpatriotismus durch
Überbewertung der heimatlichen Szene aus und pflegt gleichzeitig
eine devote Haltung gegenüber der wie auch immer gearteten
Obrigkeit. Abweichler werden bald als solche erkannt, wieder auf Kurs
gebracht oder abgestempelt. Die Provinz sucht keine Weitläufigkeit,
sondern pflegt Prüderie und Spießertum in bürgerlicher
Doppelmoral.
Demgegenüber stellen sich die
Metropolen offener dar, aber gar nicht selten bedeutet Offenheit
lediglich anonyme Freiheit, auch Beziehungslosigkeit. Die Bürger der
Mega-Städte sind in beträchtlichem Maße Lokalpatrioten,
provinziell und häufig nationalistisch geprägt. Das erweiterte
gesellschaftliche und kulturelle Angebot der Städte ermöglicht
Horizonterweiterungen gegenüber dem Leben in der Provinz, doch
gleicht zumindest in den Staaten mit entwickelter Infrastruktur die
oft bessere Lebensqualität auf dem Lande die provinziellen Nachteile
aus.
Provinzielle Enge entsteht gegenwärtig
weniger durch den Stadt-Land-Gegensatz als durch das Bildungsgefälle
innerhalb der Bevölkerung eines Staates. Dadurch wird Provinzialität
ein Phänomen, das offensichtlich trotz zunehmender Verstädterung
und wachsender Technologisierung an Bedeutung gewinnt. Obwohl die
globalen Zusammenhänge sich überall bemerkbar machen, verharren die
Menschen vorwiegend in provinziellen Sichtweisen und Strategien. Ein
wesentlicher Pfeiler dieser Gedankengebäude besteht in der
jeweiligen Religion, sei es aus fundamentalistischer Überzeugung
oder aus eng an die Religion gebundener, traditioneller
Lebensgewohnheit.
Die
verheerenden Folgen der provinziellen Einengungen schlagen sich in
jeder Nachrichtensendung und in jeder beliebigen Tageszeitung nieder
und akzelerieren mit dem Wachstum der Weltbevölkerung und der
wirtschaftlichen Entwicklung weiterer aufstrebender Regionen.
Menschwerdung gerät mehr noch als in
früheren Zeiten ins Hintertreffen, weil in der Vermassung das
Individuum zu oft untergeht oder verblödet, ehe es sich überhaupt
als solches begreifen kann. Dabei ist gerade das Individuum der Kern
der Menschwerdung, der humanistischen Eigenverantwortlichkeit im
Einklang mit einer Gesellschaft, die ja nicht aus sich selbst heraus,
sondern aus der Summe von Individuen besteht. Provinzielle Enge
bedrängt uns indessen, weil das dort verankerte Denken über
modernste Medien die gesellschaftlichen Schaltzentralen erobert, wo
man kaum in der Lage ist, außerhalb eigener Eitelkeiten zu
reagieren, geschweige denn Perspektiven zu entwerfen.
Mit
äußerst wenigen Ausnahmen verharrt die Menschheit in archaischen
Denkstrukturen, die sich weder jetzt noch in absehbarer Zukunft
auflösen lassen. Dieser durchaus deprimierenden Tatsache muss jeder
aufgeklärte Geist Rechnung tragen, will er sich nicht erstens der
vielseitigen Inquisition ausliefern und zweitens im privaten Umfeld
in sinnlosen Konflikten aufzehren. Als kosmonomischer Humanist ohne
religiöse Affinität muss man akzeptieren, dass es eher wenige
Individuen mit ähnlicher Geistesreife gibt. Der aus religiösem
Glauben erwachsende Wahnwitz, der sich nach eigenem Bild Götter
schaffenden Kreaturen eigen ist, dokumentiert eine derart destruktive
Einschränkung, dass keine öffentliche Aufklärungsmöglichkeit
existiert, weder in Parteien oder Verbänden noch als Einzelperson.
In praktizierter Eigenverantwortung bleibt für einen Kosmonomen nur
die entschiedene, wenngleich möglichst freundliche Zurückhaltung,
um zumindest eine Privatsphäre für die Wahrnehmung und Pflege der
angenehmen Lebensseiten zu garantieren. Inwieweit es gelingt, trotz
der vorherrschenden Indoktrinationsmentalität ein lebenswertes, gar
erfülltes Dasein zu bewerkstelligen, hängt jeweils von den
persönlichen Umständen ab. Gesellschaftliche Kontakte bilden für
die Spezies „Mensch“ eine Notwendigkeit, daran lässt sich nicht
zweifeln. Ebenso sind aber die mitmenschlichen Beziehungen das Feld
zerstörerischer, primitiver Auseinandersetzungen über
Lebensauffassungen und Weltbilder. Aus den allgegenwärtigen
Gewaltoptionen kann sich der Freidenker nur durch diskrete
Reserviertheit befreien. Menschsein und Gewalt gehören
entwicklungsbedingt zusammen, doch ist der Mensch vielleicht noch
gar nicht ein solcher. Religionen stellen seinen verzweifelten, aber
ungeeigneten Schritt zur Überwindung des Tierischen dar und der
Versuch endet global immer deutlicher in Verbiesterung.
Es
ist eine bittere Erkenntnis: Aufklärung heute ist eine Fata Morgana,
dennoch gibt es bereits aufgeklärte Menschen; ihr Schicksal sei an
dieser Stelle einmal poetisch ausgedrückt: Sie eilen der
Menschheitsentwicklung voraus und ertragen den Frost wie eine
verfrühte Knospe im Frühling. Den Sommer werden andere erleben.
©
Raymond Walden