November
1998
Ein
CDU-Ratsherr, zugleich Lehrer, beklagte, dass sich an deutschen
Schulen immer mehr Kinder vom Religionsunterricht befreien ließen
und dadurch die Schulen vermehrt das Problem der Aufsicht von
sogenannten Auffanggruppen zu bewältigen hätten. Und in der Tat, in
diesen Gruppen sammeln sich nicht nur Konfessionslose, sondern
Angehörige der verschiedenen nicht christlichen Religionen sowie
gedankenlose Drückeberger.
„Wir
sind nun mal ein christliches Land“, vertrat der Pädagoge seine
Weltsicht und forderte, all die anderen hätten sich unseren Werten
und Normen zu fügen. Vordergründig mag man dem vielleicht
zustimmen, doch was sind das für Normen im praktischen Leben, sind
sie es wert, als unveränderlich für alle Zeiten zu gelten? Und
verhält sich unsere Gesellschaft, wenn schon nicht human, wenigstens
christlich gegenüber anderen Kulturen?
Prof.
Dr. Gerard Radnitzky schreibt in der Zeitschrift „Humanes
Leben - Humanes Sterben“, Nr. 3/98: „Der klassische
Liberalismus gibt für den öffentlich-politischen Bereich der
persönlichen Freiheit die Priorität; der Fundamentalismus und daher
auch die totalitäre Demokratie setzen andere Werte als 'letzte'
Werte. Christen zum Beispiel neigen oft dazu, es als
'Christenpflicht' zu betrachten, missionarisch anderen ihre Moral
aufzuoktroyieren – ein Totalitarismus in potentia.“
Gerade unter diesem Blickwinkel ist
die Rolle von Politikern und Parteien zu hinterfragen; wiederum
zitiere ich aus „Humanes Leben -
Humanes Sterben“, Nr. 3/98, diesmal Gedanken von Carl
Jaspers: „Das Unheimliche ist: In der Freiheit selber liegt ein
Grund des Verderbens. Die Welt politischer Freiheit ist verloren ohne
große Staatsmänner, die durch die Schulung freier Männer
zuverlässig von Generation zu Generation neu erwachsen. Mit allem,
was sie tun, kämpfen sie in den gegebenen Chancen der Freiheit für
diese. Sie kennen die Gefahr: Das Wagnis lohnt sich ihnen, weil es um
das höchste Daseinsgut der Menschen geht. Sie haben Mut,
Urteilskraft und Geduld. Von ihnen gilt, was von Perikles berichtet
wurde: dass man ihn, seitdem er Athen lenkte, nicht mehr habe lachen
sehen. Anders die Politiker. Sie sind opportunistische Realisten,
Betriebmacher, listige Menschen und Erpresser. Unbekümmert vital
handeln sie im Namen der Freiheit. Sie entziehen sich, wenn sie
bloßgestellt sind, durch Lügen und Witze. Durch ihr Verhalten
verhöhnen sie das Parlament, das, gleicher Art, es kaum merkt und
nicht daran denkt, solche Frevler am Geist der Politik aus dem Sattel
zu werfen. Mit sentimentalen Sprüchen täuschen sie einen Ernst vor.
Sie sind Verderber der Freiheit.
Dieser Typus von Politikern hält
seine Aufgabe, ohne Berufung, für einen Beruf, einen vielfach
aussichtsreichen, mit gutem Einkommen und Pensionsberechtigung. Sie
meinen, er sei risikolos. Sie denken ohne Verantwortung. Dabei
unterwerfen sie sich, in Gefahr ratlos, jeder sie vermeintlich
sichernden oder wenigstens rettenden Macht, wie 1933. Kaum etwas war
erniedrigender für sie und ihren Staat und kaum etwas richtiger als
die Verachtung, die Hitler und Goebbels 1933 in ihren vollends in die
Knie zwingenden Hohnreden über sie ergossen. Der Geist der freien
Welt gibt ein zweideutiges Bild. Wir freien Völker sind noch
keineswegs politisch eigentlich frei. Im wirtschaftlichen
Wohlergehen, im Weiterschliddern, in bloßen Aufregungen liegt keine
Freiheit. Die Aristokratie der Einsichtigen vermindert sich. Die
Verteilung der Verantwortung erzeugt Verantwortungslosigkeit. Die
Demokratie wird zur Parteienoligarchie.“ (Jaspers, Karl: Kleine
Schule des philosophischen Denkens. 10. Aufl., München und Zürich
1997, S. 87f)“
Im
parteiübergreifenden Machtspiel manifestiert sich die bestechliche,
einer doppelten Moral folgenden Kultur des Abendlandes, ganz
besonders auch in Deutschland: Eine Turnschuh-Figur als
Außenminister, ein RAF-Anwalt als Innenminister. Und allenthalben
Politpromis, die ihre Kinder in anthroposophischen, „freien“
Waldorfschulen nach Steiners okkultem Weltbild verbilden lassen. –
Diese „verchristlichte“ Landschaft ist zutiefst inhuman. Sich
damit abzufinden, ist aus der Hoffnungslosigkeit heraus zwar
verständlich, dennoch heißt Leben, heißt humanes Leben auch, sich
herausfordern zu lassen, dem systematisierten Unsinn
entgegenzutreten. Das kann sogar Spaß machen!
©
Raymond Walden
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