Freitag, 5. Juni 2020

Menschliches Glauben: Sind wir „nun mal ein christliches Land“? (S. 91)


November 1998

Ein CDU-Ratsherr, zugleich Lehrer, beklagte, dass sich an deutschen Schulen immer mehr Kinder vom Religionsunterricht befreien ließen und dadurch die Schulen vermehrt das Problem der Aufsicht von sogenannten Auffanggruppen zu bewältigen hätten. Und in der Tat, in diesen Gruppen sammeln sich nicht nur Konfessionslose, sondern Angehörige der verschiedenen nicht christlichen Religionen sowie gedankenlose Drückeberger.
     „Wir sind nun mal ein christliches Land“, vertrat der Pädagoge seine Weltsicht und forderte, all die anderen hätten sich unseren Werten und Normen zu fügen. Vordergründig mag man dem vielleicht zustimmen, doch was sind das für Normen im praktischen Leben, sind sie es wert, als unveränderlich für alle Zeiten zu gelten? Und verhält sich unsere Gesellschaft, wenn schon nicht human, wenigstens christlich gegenüber anderen Kulturen?
     Prof. Dr. Gerard Radnitzky schreibt in der Zeitschrift „Humanes Leben - Humanes Sterben“, Nr. 3/98: „Der klassische Liberalismus gibt für den öffentlich-politischen Bereich der persönlichen Freiheit die Priorität; der Fundamentalismus und daher auch die totalitäre Demokratie setzen andere Werte als 'letzte' Werte. Christen zum Beispiel neigen oft dazu, es als 'Christenpflicht' zu betrachten, missionarisch anderen ihre Moral aufzuoktroyieren – ein Totalitarismus in potentia.“
     Gerade unter diesem Blickwinkel ist die Rolle von Politikern und Parteien zu hinterfragen; wiederum zitiere ich aus „Humanes Leben - Humanes Sterben“, Nr. 3/98, diesmal Gedanken von Carl Jaspers: „Das Unheimliche ist: In der Freiheit selber liegt ein Grund des Verderbens. Die Welt politischer Freiheit ist verloren ohne große Staatsmänner, die durch die Schulung freier Männer zuverlässig von Generation zu Generation neu erwachsen. Mit allem, was sie tun, kämpfen sie in den gegebenen Chancen der Freiheit für diese. Sie kennen die Gefahr: Das Wagnis lohnt sich ihnen, weil es um das höchste Daseinsgut der Menschen geht. Sie haben Mut, Urteilskraft und Geduld. Von ihnen gilt, was von Perikles berichtet wurde: dass man ihn, seitdem er Athen lenkte, nicht mehr habe lachen sehen. Anders die Politiker. Sie sind opportunistische Realisten, Betriebmacher, listige Menschen und Erpresser. Unbekümmert vital handeln sie im Namen der Freiheit. Sie entziehen sich, wenn sie bloßgestellt sind, durch Lügen und Witze. Durch ihr Verhalten verhöhnen sie das Parlament, das, gleicher Art, es kaum merkt und nicht daran denkt, solche Frevler am Geist der Politik aus dem Sattel zu werfen. Mit sentimentalen Sprüchen täuschen sie einen Ernst vor. Sie sind Verderber der Freiheit.
     Dieser Typus von Politikern hält seine Aufgabe, ohne Berufung, für einen Beruf, einen vielfach aussichtsreichen, mit gutem Einkommen und Pensionsberechtigung. Sie meinen, er sei risikolos. Sie denken ohne Verantwortung. Dabei unterwerfen sie sich, in Gefahr ratlos, jeder sie vermeintlich sichernden oder wenigstens rettenden Macht, wie 1933. Kaum etwas war erniedrigender für sie und ihren Staat und kaum etwas richtiger als die Verachtung, die Hitler und Goebbels 1933 in ihren vollends in die Knie zwingenden Hohnreden über sie ergossen. Der Geist der freien Welt gibt ein zweideutiges Bild. Wir freien Völker sind noch keineswegs politisch eigentlich frei. Im wirtschaftlichen Wohlergehen, im Weiterschliddern, in bloßen Aufregungen liegt keine Freiheit. Die Aristokratie der Einsichtigen vermindert sich. Die Verteilung der Verantwortung erzeugt Verantwortungslosigkeit. Die Demokratie wird zur Parteienoligarchie.“ (Jaspers, Karl: Kleine Schule des philosophischen Denkens. 10. Aufl., München und Zürich 1997, S. 87f)“
     Im parteiübergreifenden Machtspiel manifestiert sich die bestechliche, einer doppelten Moral folgenden Kultur des Abendlandes, ganz besonders auch in Deutschland: Eine Turnschuh-Figur als Außenminister, ein RAF-Anwalt als Innenminister. Und allenthalben Politpromis, die ihre Kinder in anthroposophischen, „freien“ Waldorfschulen nach Steiners okkultem Weltbild verbilden lassen. – Diese „verchristlichte“ Landschaft ist zutiefst inhuman. Sich damit abzufinden, ist aus der Hoffnungslosigkeit heraus zwar verständlich, dennoch heißt Leben, heißt humanes Leben auch, sich herausfordern zu lassen, dem systematisierten Unsinn entgegenzutreten. Das kann sogar Spaß machen!


© Raymond Walden 


 

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