Freitag, 26. Juni 2020

Menschliches Glauben: Leidensfähigkeit (S. 98)

Vom Augenblick des Erkennens der eigenen Endlichkeit beginnt für den Menschen ein Ausmaß an Leid, das die Vorzüge des Bewusstseins gegenüber dem Tier nicht nur nivellieren kann, sondern den Menschen häufig vernichtend drangsaliert. Die Einsicht, dass ein endloses Leben unmöglich, dass der Tod demnach sinnvoll ist, vermag die Lage kaum zu entspannen, denn sie erschließt nicht den Sinn des Lebens. Dem denkenden Menschen stellt sich, ob er will oder nicht, die Aufgabe, seinem Leben einen Sinn zuzuordnen. Dem Nichtdenker wird es recht und schlecht gelingen, diese Aufgabe zu verdrängen und in einer geistigen Trägheit dahinzuleben. Angedickt zu einer gesellschaftlich zähen Masse, verkörpert das Nichtdenken aber den bisher als normal geltenden Zustand der Menschheit, die zwar mit ihrer angeblichen Denkfähigkeit kokettiert, jedoch konsequent das Denken bei jeder Gelegenheit verhindert und es gar bei Strafe verbietet. Religionen und Staatsphilosophien dulden kein kritisches Hinterfragen, sogar in den sogenannten exakten Wissenschaften gelten an Dogmen erinnernde Thesen und paaren sich esoterikähnlich mit vergeistigtem Wildwuchs.
     Gewöhnlich im frühen Kindesalter beginnt die eigentliche Demütigung des Menschen durch Indoktrinationen, deren einziges Ziel die Verhinderung des freien Denkens ist. Die Würde des Menschen wird zerstört, indem sie religiös oder ideologisch festgeschriebenen Dogmen unterworfen wird. Der Weg des Leidens erfährt so seine akribische Vorbereitung; das führt breit angelegt zu seelischen Konflikten, Doppelmoral, der Erzeugung von Feindbildern, Krieg und Völkermord.
     Kein einziges Staatswesen auf dem Globus verzichtet auf Denkverbote, wobei sich die Restriktionen auf das Äußern der Gedanken beschränken müssen, denn das Denken an sich lässt sich natürlich nicht ausschalten, aber wie schon beklagt, durch frühzeitige Infiltration oder gar Gehirnwäsche einschränken. Religiöse und staatliche Tabus mögen für nicht weiter nachdenkende Personen ausreichen, um den Sinn des Lebens demgemäß zu adaptieren und sich zumindest zeitweilig wohlzufühlen. Das Leiden wird dadurch nicht gemindert und schon gar nicht erklärt. Aber den wenigen Menschen, die aus irgendwelchen Gründen, die sie sich nicht ausgesucht haben, zum aufgeklärten Denken vorstoßen und zum Beispiel die religiös begründeten Zwangsläufigkeiten von Leiderzeugung bis hin zu gegenseitigen Abschlachtungen durchschauen, ergeht es kaum besser. Denn solche Individuen haben zumeist keine adäquaten Ansprechpartner, befinden sich in einer Gesellschaft, die ihnen mit Unverständnis und Ausgrenzung begegnet, wenn sie nicht gar drastischere Maßnahmen ergreift.
     Könnte man den biologischen Verfall des Menschenlebens als natürliches Leid bezeichnen, das sich durch menschliche Zuwendung im Verbund mit verantwortungsbewusster Wissenschaft lindern lässt, entsteht zusätzlich vergeistigtes „unnatürliches“ Leid in gigantischen Ausmaßen und mit zerstörerischer Macht.
     Anerkennt man die Würde eines jeden Menschen als unantastbar, erweisen sich Neid, Missgunst, Eifersucht, Rachsucht, Ausbeutung von Menschen, Nationalstolz, der „vaterlandstreue“ Kriegsdienst, Auserwähltheitsansprüche und religiöses Sendungsbewusstsein als offene Diskriminierungen anderer Menschen. Erst wenn ein wesentlicher Teil der Menschheit das begreift, kann sich Gewaltfreiheit als Grundprinzip des Miteinanders unter Achtung der humanen demokratischen Gleichberechtigung entwickeln. Solange Menschen glauben zu wissen, was irgendeine Gottheit verfügt und sich derartige Menschen zu Stellvertretern und Richtern der Götter aufspielen, produzieren sie Leid, weil das Gehirn denkunfähig verharrt. Ausgerechnet dieses komplexe Organ des humanen Menschseins muss erst noch zum Leben erweckt werden! Ob es der Evolution dereinst gelingen wird, einen solchen Status des Lebens hervorzubringen, erscheint in der Gegenwart als eher unwahrscheinlich, da doch vermehrt alle Kräfte der Selbstzerstörung in den Vordergrund treten. Trotz fehlgeleiteter Globalisierung mag unser Planet aber Nischen aufweisen, von wo aus Denkfähigkeit Überlebensstrategien evolutionär durchsetzen wird.
     Bis zu diesem Zeitpunkt wird das Leid anschwellen und vor allem freie Denker nicht verschonen. Die Sinnsuche für den Einzelnen wird dadurch um so schwerer und er wird keine Hilfe bei den Massenmenschen oder bei der Masse „Mensch“ erfahren. Humanität, so erscheint es mir, keimt, wenn überhaupt, in verbindlichen Partnerschaften auf den zahlreichen Ebenen des Alltäglichen, wobei allein die Partner die Kriterien jener Verbindlichkeiten in freier Übereinstimmung definieren und keine Religion und kein sonst wie konstruiertes Tabu ein Mitspracherecht besitzen.
     Unsere Leidensfähigkeit ist ein Merkmal der Evolution. Zuverlässige Partnerschaften, befreit von religiösem Klimbim voller Doppelmoral, werden sich behaupten. Eine Faszination für jeden, der denkt. Aber wie kommt man an denkende Mitmenschen, wenn nicht durch Zufall?


© Raymond Walden




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