Vom
Augenblick des Erkennens der eigenen Endlichkeit beginnt für den
Menschen ein Ausmaß an Leid, das die Vorzüge des Bewusstseins
gegenüber dem Tier nicht nur nivellieren kann, sondern den Menschen
häufig vernichtend drangsaliert. Die Einsicht, dass ein endloses
Leben unmöglich, dass der Tod demnach sinnvoll ist, vermag die Lage
kaum zu entspannen, denn sie erschließt nicht den Sinn des Lebens.
Dem denkenden Menschen stellt sich, ob er will oder nicht, die
Aufgabe, seinem Leben einen Sinn zuzuordnen. Dem Nichtdenker wird es
recht und schlecht gelingen, diese Aufgabe zu verdrängen und in
einer geistigen Trägheit dahinzuleben. Angedickt zu einer
gesellschaftlich zähen Masse, verkörpert das Nichtdenken aber den
bisher als normal geltenden Zustand der Menschheit, die zwar mit
ihrer angeblichen Denkfähigkeit kokettiert, jedoch konsequent das
Denken bei jeder Gelegenheit verhindert und es gar bei Strafe
verbietet. Religionen und Staatsphilosophien dulden kein kritisches
Hinterfragen, sogar in den sogenannten exakten Wissenschaften gelten
an Dogmen erinnernde Thesen und paaren sich esoterikähnlich mit
vergeistigtem Wildwuchs.
Gewöhnlich im frühen Kindesalter
beginnt die eigentliche Demütigung des Menschen durch
Indoktrinationen, deren einziges Ziel die Verhinderung des freien
Denkens ist. Die Würde des Menschen wird zerstört, indem sie
religiös oder ideologisch festgeschriebenen Dogmen unterworfen wird.
Der Weg des Leidens erfährt so seine akribische Vorbereitung; das
führt breit angelegt zu seelischen Konflikten, Doppelmoral, der
Erzeugung von Feindbildern, Krieg und Völkermord.
Kein
einziges Staatswesen auf dem Globus verzichtet auf Denkverbote, wobei
sich die Restriktionen auf das Äußern der Gedanken beschränken
müssen, denn das Denken an sich lässt sich natürlich nicht
ausschalten, aber wie schon beklagt, durch frühzeitige Infiltration
oder gar Gehirnwäsche einschränken. Religiöse und staatliche Tabus
mögen für nicht weiter nachdenkende Personen ausreichen, um den
Sinn des Lebens demgemäß zu adaptieren und sich zumindest
zeitweilig wohlzufühlen. Das Leiden wird dadurch nicht gemindert und
schon gar nicht erklärt. Aber den wenigen Menschen, die aus
irgendwelchen Gründen, die sie sich nicht ausgesucht haben, zum
aufgeklärten Denken vorstoßen und zum Beispiel die religiös
begründeten Zwangsläufigkeiten von Leiderzeugung bis hin zu
gegenseitigen Abschlachtungen durchschauen, ergeht es kaum besser.
Denn solche Individuen haben zumeist keine adäquaten
Ansprechpartner, befinden sich in einer Gesellschaft, die ihnen mit
Unverständnis und Ausgrenzung begegnet, wenn sie nicht gar
drastischere Maßnahmen ergreift.
Könnte
man den biologischen Verfall des Menschenlebens als natürliches Leid
bezeichnen, das sich durch menschliche Zuwendung im Verbund mit
verantwortungsbewusster Wissenschaft lindern lässt, entsteht
zusätzlich vergeistigtes „unnatürliches“ Leid in gigantischen
Ausmaßen und mit zerstörerischer Macht.
Anerkennt man die Würde eines jeden
Menschen als unantastbar, erweisen sich Neid, Missgunst, Eifersucht,
Rachsucht, Ausbeutung von Menschen, Nationalstolz, der
„vaterlandstreue“ Kriegsdienst, Auserwähltheitsansprüche und
religiöses Sendungsbewusstsein als offene Diskriminierungen anderer
Menschen. Erst wenn ein wesentlicher Teil der Menschheit das
begreift, kann sich Gewaltfreiheit als Grundprinzip des Miteinanders
unter Achtung der humanen demokratischen Gleichberechtigung
entwickeln. Solange Menschen glauben zu wissen, was irgendeine
Gottheit verfügt und sich derartige Menschen zu Stellvertretern und
Richtern der Götter aufspielen, produzieren sie Leid, weil das
Gehirn denkunfähig verharrt. Ausgerechnet dieses komplexe Organ des
humanen Menschseins muss erst noch zum Leben erweckt werden! Ob es
der Evolution dereinst gelingen wird, einen solchen Status des Lebens
hervorzubringen, erscheint in der Gegenwart als eher
unwahrscheinlich, da doch vermehrt alle Kräfte der Selbstzerstörung
in den Vordergrund treten. Trotz fehlgeleiteter Globalisierung mag
unser Planet aber Nischen aufweisen, von wo aus Denkfähigkeit
Überlebensstrategien evolutionär durchsetzen wird.
Bis
zu diesem Zeitpunkt wird das Leid anschwellen und vor allem freie
Denker nicht verschonen. Die Sinnsuche für den Einzelnen wird
dadurch um so schwerer und er wird keine Hilfe bei den Massenmenschen
oder bei der Masse „Mensch“ erfahren. Humanität, so erscheint es
mir, keimt, wenn überhaupt, in verbindlichen Partnerschaften auf den
zahlreichen Ebenen des Alltäglichen, wobei allein die Partner die
Kriterien jener Verbindlichkeiten in freier Übereinstimmung
definieren und keine Religion und kein sonst wie konstruiertes Tabu
ein Mitspracherecht besitzen.
Unsere Leidensfähigkeit ist ein
Merkmal der Evolution. Zuverlässige Partnerschaften, befreit von
religiösem Klimbim voller Doppelmoral, werden sich behaupten. Eine
Faszination für jeden, der denkt. Aber wie kommt man an denkende
Mitmenschen, wenn nicht durch Zufall?
©
Raymond Walden