August
1998
Abstand
zu halten, mag nicht nur bedeuten, Anstand zu bewahren – etwa im
Straßenverkehr oder am Bankschalter – , sondern kann auch ein
tiefer verankertes Sozialverhalten kennzeichnen: Überlegungen, gar
Überlegenheit, im Abstand zu den Dingen, zu den Lebensphänomenen
und folglich auch zum Ich. Abstand meint dann nicht Abseits oder
Rückzug, denn der Abstandhaltende gewinnt an Überblick, der die
eigene Vorsicht untermauert und natürlich auch zu Absagen,
Stornierungen, Aufkündigungen führen kann, wohl aber kaum im Sinne
von Resignation. Gerade die Kühle des Kopfes ist geeignet,
leidenschaftliches Engagement zu begründen, eine Hingabe nicht mit
billigem Fan-Gehabe, die auch keineswegs mit konservativem
Patriotismus oder Nationalismus verwechselt werden möchte – und
schon gar nicht mit moralisch-religiöser Überhöhung oder
Unterwerfung.
Abstand zu taxieren, erfordert klare
Bewusstseinsvorgaben, um, bleiben wir beim Bild des Straßenverkehrs,
vorausschauend zu fahren. Stets muss ich mit der Unzulänglichkeit,
ja Dummheit anderer Straßenbenutzer rechnen. Die Möglichkeit eines
technischen Versagens, die Berücksichtigung landschaftlicher und
meteorologischer Gegebenheiten sowie meiner eigenen Fehlbarkeit in
der Beurteilung aller zuvor genannten Gesichtspunkte können eine
sachliche, selbstsichere Fahrweise zur Selbstverständlichkeit werden
lassen, die aber niemals alle Risiken ausschließt. Insofern führt
dieser verkehrstechnische Gedankenausflug zur allgemeinen
Feststellung, dass sich Risiken nur minimalisieren, nicht abschaffen
lassen.
Mir
scheint, dass diese Binsenweisheit von den meisten Menschen verdrängt
wird. Deshalb gehen viele Zeitgenossen zwar auf Abstand im Sinne von
„sich da raushalten“, glauben in einer derartigen
Beziehungslosigkeit sicher zu sein – besonders wenn sie auch gegen
jedes und alles versichert sind –, merken aber nicht, wie sehr
gerade sie mittendrin stehen im oberflächlich nivellierenden
Massentrend. Direkt gesteuert durch Werbung, politische Anmache,
ideologische Missionierung und krankhaft kokettierende Eitelkeit,
schrumpft der Abstand auf jene Minimalität, die sogenannte Steher
einhalten, wenn sie auf ihren Rennrädern hinter einem
Temposchrittmacher herjagen.
Dies
ist ein Grund für die irrationale Schnelllebigkeit, für die
Vergesslichkeit, die zum Beispiel Wahlversprechen so wertlos macht.
Noch einmal: Abstand meint nicht Abwinken, Teilnahmslosigkeit, wohl
aber Distanz zur Subkultur, ganz besonders auch, weil dieses Phänomen
der geschwätzigen Viellaberei mehr und mehr Einzug hält gerade in
regionale, vielleicht nicht ganz so profilierte Stadtratsköpfe, die
sich sogar bei der Abwasserbeseitigung auf ihre jeweiligen Gurus
Joschka, Gerd oder Helmut berufen, sich gar vom Papst gesegnet
fühlen. Abstand meint Feinfühligkeit, Respekt oder anders
formuliert, niemandem zu nahe zu treten. Dies wiederum erfordert
Takt. Doch welcher dieser Egoisten, aus denen die Masse sich
zusammensetzt, kennt diesen Terminus überhaupt noch?
Nun
vernehme ich schon die Kritiker: „Der macht alles madig.“ Irrtum,
ein Madigmacher hätte nämlich längst resigniert. Ich kenne
immerhin einige Leute, die nicht aufgeben, die aktiv hart am Ball
sind, weil sie begriffen haben, dass Lebensqualität in erster Linie
heißt, feinfühligen Abstand zu erzeugen, zu wahren, Respekt
entgegenzubringen, der Falschheit aber entschlossen zu begegnen, um
die Grundlage eigener Besonnenheit zu erhalten. Ein Friedensprinzip!
©
Raymond Walden
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