Montag, 11. Mai 2020

Menschliches Glauben: Wider den tierischen Ernst ... (S. 83)


Februar 1998

oder: Selbst im Karneval hat der opportunistische Schwachsinn Methode, wenn Politiker für ihren angeblichen Humor in den Aachener Albernheiten-Orden aufgenommen werden. Unabhängig von der politischen Couleur pflegt man sich gegenseitig zu hofieren, zu applaudierend, einander zuprostend und ach so lustig demokratisch. Im echten Sinne ein Narrenclub, stets telegen in Szene gesetzt. Die sich so possenhaft Offenbarenden vergessen selbst in der Bütt den Wahlkampf nicht, denn auch Narrenvolkes-Stimme schafft die Grundlage für das Regieren. Die Ordensritter gehören jener Gattung von Menschen an, die sich auch in Verbänden, Kirchen, Aufsichtsräten eingenistet hat; sie repräsentieren das gesellschaftliche Spektrum der „Meinungsvielfalt“.
     Unwillkürlich schweifen meine Gedanken zu der Institution Fernsehen, die ja im öffentlich-rechtlichen Rahmen auch von derartigen Leuten gesteuert wird. Könnte man sich nicht rundum geborgen fühlen, wo doch ein Theologe die Nachrichten verliest und ein anderer wie eine Fliege durch alle esoterischen Sparten summt? Und welch ein erhebendes Gefühl, predigt im Fernsehgottesdienst die Vizepräsidentin des Bundestags von der Kanzel herunter in ihrer angestammten Rolle als Pfarrerin. Trotzdem werden auch an diesem Tag im Fernsehen erneut zahlreiche unterhaltsame Morde dargeboten, Gefühle und „Seelen“ vor allem junger Menschen verroht – als Antwort auf deren eventuell später verübte Verbrechen wird dann vielleicht doch die Todesstrafe hermüssen!
     Der Tod, das ist offensichtlich, stellt eine Option für die Religionen und ihre Verbündeten dar. Seine Bedeutung wird thematisiert und festgeschrieben. Das Recht auf ein humanes Leben wird von Leuten dieser Prägung, ob auf der Narrenbühne, der Kanzel oder im Parlament, kaum logisch begründet, weil spiritistische und Macht begründende Gottheiten ihre eigene, lockere Auslegung von Humanität haben.
     Ich unterstelle nicht einmal in jedem Falle bösen Willen, denn auch diese Leute sind aus unserem Erziehungssysteme hervorgegangen. In NRW sind viele Grundschulen Bekenntnisschulen (welch ein Anachronismus!); die Eltern, auch jene, welche nicht der jeweiligen Schulkonfession angehören, werden demnächst schriftlich erklären müssen, dass ihre Kinder am Religionsunterricht teilnehmen. Wer das nicht möchte, kann sein Kind zu einer „Gemeinschaftsschule“ schicken, die mitunter weit entfernt ist. Schon jetzt ist absehbar, dass sich in den zuletzt genannten Schulen eine „Multi-Kulti-Szene“ mit allen Problemen entwickeln wird, während in den konfessionell konformen Bildungseinrichtungen die „Elite“ im Geiste Gottes behütet heranwachsen kann.
     Eine feine Gesellschaft – eben wider den tierischen Ernst.


© Raymond Walden




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