Mai
1995
Die
Sterndeutung mag aus historischer Sicht nachvollziehbar erscheinen,
ihre entwicklungsgeschichtlich geradezu zwingende Notwendigkeit ist
begründ- und erklärbar wie die jeder Religion. Während sich jedoch
zahlreiche Religionen auf eine recht straffe ideologische und strenge
organisatorische Ordnung gründen, unterliegt die Astrologie von
Beginn an einer ungezügelten Deutungsfreiheit, sodass es nicht
möglich ist von der
Astrologie zu sprechen,
sondern nur von einem astral-chaotischen Durcheinander
religionsähnlicher Glaubensmechanismen.
Es
geht kein Mensch aus purer Neugier zum Wahrsager oder Sterndeuter,
sondern vorwiegend aus Notlagen heraus, denn die Beratungen sind ja
nicht billig. Bedingt durch eine Zwangssituation oder durch bereits
in früher Jugend eingeübte Hinwendungen zum Irrationalen, ist die
Glaubensbereitschaft unkritisch oder sogar euphorisch. Auf diese
breite Basis stützt sich der Erfolg selbst von Jahrmarkts- und
Automatenastrologie. Der sogenannte Unterhaltungswert ist bei der
unüberschaubaren Verbreitung ein von den Verantwortlichen
heuchlerisch vorgetäuschter Rechtfertigungsgrund. Gemessen an der
Erscheinungsvielfalt des Obskuren, handelt es sich hierbei nicht mehr
bloß um die Befriedigung eines „Unterhaltungsbedürfnises“ (es
überträfe alle anderen Unterhaltungssparten), sondern offenbar um
ein schwerwiegenderes Phänomen. So gibt denn das geduldige Ertragen
oder das „Vergessen“ von selbst drastischen Fehlprognosen durch
die astrale Glaubensgemeinschaft bereits erste Hinweise auf die
unerschütterliche Glaubenssucht. Sie hat, je nach Positionierung
innerhalb der Weltfremdheit, zwei Ursachen: Verunsicherung und
Hilflosigkeit, aus denen der Wunsch nach geistigem Geführtwerden
entsteht, und auf der anderen Seite die Unfähigkeit zum
objektivierbaren Denken, die manchmal sogar eine an sich
unbegründbare Selbstsicherheit erzeugt.
Für
den Sterndeuter Niehenke beispielsweise ist es unwesentlich, dass
seine Doktorarbeit über die Stimmigkeit von Horoskopdeutungen ein
negatives Ergebnis gezeitigt hat (Psychologische
Fakultät Universität Bielefeld, Deutschland);
die berufliche Praxis als Astrologe verhindert jeden Selbstzweifel;
er praktiziert nun als „kritischer Astrologe“ mit Doktorwürde.
Die
Lebensuntüchtigkeit so vieler Zeitgenossen muss hier nicht
untersucht werden, sie zeigt sich auch in deprimierenden
Scheidungsraten. Für viele Menschen stellt sich der Alltag als
Abfolge beruflicher Überforderung einerseits und Eintönigkeit
andererseits dar, geprägt von Konsum- und Konkurrenzdenken,
Kommunikationsarmut in der Familie und zweifelhaften
Freizeitverhaltensmustern: Fernsehen, Alkohol, Nikotin, weitere
Drogen etc. Aus diesen tristen Kreisläufen resultieren Krankheiten,
Verzweiflung und die Bereitschaft, jeden noch so albernen Strohhalm
als Rettung zu ergreifen. Da im Abendland die christlichen Kirchen
logischerweise jetzt an Einfluss verlieren, entstehen in den über
Generationen hinweg geprägten Denkstrukturen gewaltige Hohlräume,
in denen nun eine Art Glaubenswildwuchs dominiert. Unzweifelhaft ist
die Glaubensbereitschaft, an Unlogisches – an Wunder, die es nicht
gibt – zu glauben, ein Erbe der religiösen Vorgeschichte.
So
wie die Alchimie durch die exakte Chemie abgelöst wurde, so wie der
Medizinmann im Arzt seinen Nachfolger fand, so erlebte die Astrologie
das Ende ihrer Daseinsberechtigung durch die Astronomie und die ihr
verwandten Naturwissenschaften. Kein einziges Faktum des gestirnten
Himmels ist durch die Astrologie erforscht worden; ein Merkmal
übrigens für die Forschungsunfähigkeit der Sterndeuterei. Sie ist
in allen ihren himmelsbezogenen Aussagen wissenschaftsfremd, in ihren
Übertragungen auf das menschliche Leben für jegliche Willkür offen
und somit unverantwortlich. Weder der astrologische Tier- noch der
Häuserkreis sind am Himmel auffindbar, die Planeten besitzen alle
anderen als die durch Astrologen propagierten Eigenschaften, die
symbolistischen Analogien der Planeten, der Tierkreiszeichen mit den
Trigonen und Kreuzen, die Aszendenten, Deszendenten, Himmelsmitten
und horoskopischen Nadire sind wie die Transite und Häuseraspekte
leere, wissenschaftlich klingende Worthülsen, Hirngespinste einer
überholt geglaubten Zeit. Doch was nützt alle astronomische
Argumentation, wenn Sternmystiker Analogien als einzige
Lebensweisheiten gelten lassen? Die Astronomie liefert Beweise gegen
das mystische Sternenverständnis, mithin liegt die Ursache für das
allgegenwärtige Wiederaufleben der Astrologie nicht in der
Naturwissenschaft, sondern in anderen gesellschaftlichen Problemen.
Der
Jahrmarkt menschlicher Eitelkeit floriert mit dem allgemeinen
Wohlstand, denn auch Eitelkeit kostet ja Geld. Dem Besitzenden öffnen
sich die Konferenz- und Ballsäle, die Aufsichtsräte und die
Redaktionen. So erleben wir immer wieder, dass Personen, die auf
irgendeinem Sektor Herausragendes leisten, plötzlich zu allen
möglichen Themen öffentlich Stellung beziehen, ja sogar trotz ihrer
Inkompetenz mitentscheiden. Nicht immer sind die so in Verantwortung
gehievten Stars und Sternchen schuldig, denn sie gelangen selten zu
der Einsicht, dass ihr Verhalten problematisch ist. Für die
Schickeria ist es allemal interessant, was der Bodybuilder S. über
die Reinkarnation, die Schauspielerin K. über Esoterik, der
Politiker R. über Horoskope verbreitet, ob nun auf großem Parkett
oder auf einer Provinz-Party. Zwar ist man vor Ort im „kleinen
Schwarzen“ oder im Frack das Übersinnliche betreffend nicht
ungeteilter Meinung, doch wenn die Prominenten „da oben“ schon
darüber laut spekulieren, dann „ist was dran“. Dabei zeigt uns
jede beliebige Klatschspalte in den Medien, wie kaputt, wie psychisch
angeschlagen diese Menschen mit dermaßen verkorksten Weltbildern
sind.
Aus
dem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf heraus haben die Medien ein
Interesse an Sensationen und Außergewöhnlichem. Meldungen über
eine „UFO-Landung“ oder astrologische Prognosen erwecken mehr
Aufmerksamkeit als die Gegendarstellung: keine UFOs, Astrologie als
Unsinn enttarnt. So betrachtet, kann man den Medien einiges
Verständnis entgegenbringen. Es bleibt aber die Frage nach der
Verpflichtung zur Wahrheit. Machen wir uns nichts vor: Wann immer es
opportun erscheint, belügen die Medien die Öffentlichkeit „wie
gedruckt“, ob nun auf Papier, auf dem Bildschirm oder über
Lautsprecher. Die Öffentlich-Rechtlichen tun dies, indem sie sich
von Parteien, Kirchen und sonstigen Gruppen in den Rundfunkräten
einen „demokratischen Proporz“ absegnen lassen, die Privaten
verkaufen ihre ganze Unseriosität allein mit der Berufung auf
Einschaltquoten. Qualität wird bewusst zugunsten der Quantität
abgestuft. Das kommt nicht aus heiterem Himmel. Die Nazis erkannten
als erste die Massenwirksamkeit der Medien und setzten sie skrupellos
ein. Die Anwender heute wissen noch detaillierter über ihre
Möglichkeiten Bescheid.
Was
die verantwortlichen Verleger und Redakteure mithilfe des Okkulten
betreiben, ist eine gezielte Desinformation, Massendesorientierung
unter dem Vorwand demokratischer Meinungsfreiheit. In Wirklichkeit
wird das Prinzip demokratischer Selbstbestimmung mit Füßen
getreten, um die Vorherrschaft der jeweiligen „Meinungspäpste“
zu untermauern. Eine verunsicherte, darüber hinaus gewaltüberflutete
Bevölkerung, durch astrologische Orakel verblendet, lässt sich
leichter lenken.
Es
ist falsch verstandene Bescheidenheit, wenn seriöse Wissenschaftler
zu all den verbreiteten Unsinnstheorien der Esoterik schweigen. Zwar
weiß der Wissenschaftler um die tatsächliche Begrenztheit des
menschlichen Verstandes und ist sich der steten Gefahr der
Irrung bewusst, doch muss er – wer sonst? – zu den
offensichtlichen Fehlinterpretationen Stellung beziehen. Das setzt
freilich fachliche Selbstsicherheit und zusätzlich Zivilcourage
voraus. Außerdem muss man den Gegner kennen! Das heißt, man sollte
sich schon vor dem Einstieg in die öffentliche Diskussion mit den
schrulligsten Argumenten auseinandersetzen. Das nun mag vielen
Forschern zuwider sein, aber im eigenen Interesse bleibt der
Wissenschaft kein anderer Weg als die interdisziplinäre Widerlegung
des Okkulten.
Die
heute weit verbreitete schmale fachliche Spezialisierung bei
abnehmender Allgemeinbildung verstärkt jedoch sogar die gegenteilige
Tendenz: Auch Akademiker wenden sich verstört und überfordert an
Wahrsager und esoterische Aussteiger. So gibt es sie wirklich, die
Gurus als Kronzeugen mit astro-physikalischer Ausbildung. Innerhalb
dieses Szenarios von Verunsicherung, Medienabhängigkeit,
Glaubenslust und -frust, von zuverlässigen wissenschaftlichen
Entwicklungen und zugleich technologischen Fehlanwendungen wie
Überschätzungen, entpuppen sich chaotische Koalitionen. Da
veranstalten Kirchen – offiziell Astrologie ablehnend –
astrologische Bildungsseminare und verkünden, auch die okkulten
Begabungen seien Schöpfungen Gottes. Die staatlich geförderten
Volkshochschulen werden zu esoterischen Heilsverkündern, gestandene
Industrieunternehmen bemühen Firmenastrologen, Politiker regieren
mit astralem Zepter.
Erzählt man das dem Normalbürger,
der es eigentlich längst gemerkt haben müsste, schaut er ungläubig.
Hier nur drei Nagelproben: An der Decke im Kreißsaal des neuen
katholischen Krankenhauses einer deutschen Stadt empfängt ein
blinkender astrologischer Tierkreis die neuen Erdenbürger. An einer
süddeutschen Universität bastelt eine Astrologin unter
professoraler Anleitung an einer Doktorarbeit mit astrologischem
Thema. Die „Staatliche Zentralstelle für Fernunterricht“ (ZFU)
in Köln, Deutschland, lässt unter der Nummer 741094v einen Fernkurs
„Astrologische Menschenkunde“ zu
(Quelle: Pressemitteilung Deutscher Astrologenverband)
und bestärkt dadurch den unzutreffenden Eindruck, Astrologe sei ein
seriöser Beruf.
Die
Astrologie erlebt eine weltweite Reinkarnation in einer für sie
typischen Verwirrung sämtlicher erforschter natürlicher
Gesetzmäßigkeiten, als hätte die Menschheit wirklich nur dies eine
Ziel: die eigene Vernichtung. Denn keine der bohrenden Zukunftsfragen
lässt sich astrologisch lösen: weder der Bildungsnotstand noch die
sozialen Probleme in den Industrienationen, nicht der Hunger und die
Epidemien weltweit, keine Umweltzerstörung und keine
Kriegsmaschinerie. Astrologie selbst bedeutet geistige Zersetzung.
©
Raymond Walden