Dezember
2001
Ein
Tag geht zu Ende und die Sonne steigt hinab zum Westhorizont. Der Ort
des Untergangs ist jedoch – ähnlich wie übrigens auch der des
morgendlichen Aufgangs – nicht stationär. Bis zum Sommeranfang am
21. Juni wandert der Punkt am Horizont täglich ein Stück weiter
nordwestlich, alsdann kehrt er die Bewegung um, bis zum Winteranfang
am 21. Dezember täglich ein Stück zurück, über West nach Südwest.
So dokumentiert sich die Höhe des täglichen Bogens, den die Sonne
am Firmament beschreibt; es ist das Spiel der Jahreszeiten, mit den
variierenden Nacht- und Tageslängen.
Zum
jeweiligen Tagesabschied wie auch beim Sonnenaufgang ist der Weg des
Lichts durch die Erdatmosphäre besonders lang, die Lichtflut wird so
weit gedämpft, dass sich große Sonnenflecken manchmal sogar mit dem
bloßen Auge entdecken lassen. Diese Erscheinungen unterliegen einem
Elfjahresrhythmus, denn unsere Sonne ist schlechthin das dynamische
Zentrum unseres Planetensystems, eine Energiequelle mit vielen
physikalischen und chemischen Zyklen. Wasserstoffkerne werden in
Heliumkerne umgeschmolzen – ein Fusionsreaktor.
Langsam verblasst der Taghimmel,
scheinbar als offenes Feuer taucht die Sonne in den Ozean, flackert
durch die Bäume des Waldes, die Wolken und die Silhouetten
menschlicher Siedlungen verlieren sich im Rotgold. Schwächer wird
die Glut, lautlos erlischt sie ganz, streut noch Leben in die
Abenddämmerung, die sich niedersenkt und die Natur je nach
geografischer Breite mehr oder weniger zögerlich in die Finsternis
entlässt.
Wie
war unser Tag? Gehe ich müde an sein Ende oder treiben mich Ideen,
Wünsche voran? Geruhsam entfaltet sich die Nacht; wenn ich möchte,
mache ich sie zum Tag – diese Freiheit hat der moderne Mensch. Ich
mag heute aber nicht, denn die Faszination des kontrastreich
anschwellenden Sternenhimmels fängt mich ein. Ich blicke auf,
staune, denke, erkenne mich wieder, bevor ich spät einschlafe in der
ruhigen Gewissheit eines neuen Sonnenaufgangs, frei im Kräftespiel
der Natur, so gänzlich frei von Orakeln, Götterfantasien und
politischen Moden, eingeschränkt allein durch die stets
allgegenwärtige und vertraute Möglichkeit, auch in dieser Nacht wie
zu jedem anderen Zeitpunkt für immer einschlafen zu können. Ich bin
Teil der Evolution.
©
Raymond Walden
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