Dienstag, 7. Januar 2020

Menschliches Glauben: Sonnenuntergang (S. 37)

Dezember 2001

Ein Tag geht zu Ende und die Sonne steigt hinab zum Westhorizont. Der Ort des Untergangs ist jedoch – ähnlich wie übrigens auch der des morgendlichen Aufgangs – nicht stationär. Bis zum Sommeranfang am 21. Juni wandert der Punkt am Horizont täglich ein Stück weiter nordwestlich, alsdann kehrt er die Bewegung um, bis zum Winteranfang am 21. Dezember täglich ein Stück zurück, über West nach Südwest. So dokumentiert sich die Höhe des täglichen Bogens, den die Sonne am Firmament beschreibt; es ist das Spiel der Jahreszeiten, mit den variierenden Nacht- und Tageslängen.
     Zum jeweiligen Tagesabschied wie auch beim Sonnenaufgang ist der Weg des Lichts durch die Erdatmosphäre besonders lang, die Lichtflut wird so weit gedämpft, dass sich große Sonnenflecken manchmal sogar mit dem bloßen Auge entdecken lassen. Diese Erscheinungen unterliegen einem Elfjahresrhythmus, denn unsere Sonne ist schlechthin das dynamische Zentrum unseres Planetensystems, eine Energiequelle mit vielen physikalischen und chemischen Zyklen. Wasserstoffkerne werden in Heliumkerne umgeschmolzen – ein Fusionsreaktor.
     Langsam verblasst der Taghimmel, scheinbar als offenes Feuer taucht die Sonne in den Ozean, flackert durch die Bäume des Waldes, die Wolken und die Silhouetten menschlicher Siedlungen verlieren sich im Rotgold. Schwächer wird die Glut, lautlos erlischt sie ganz, streut noch Leben in die Abenddämmerung, die sich niedersenkt und die Natur je nach geografischer Breite mehr oder weniger zögerlich in die Finsternis entlässt.
     Wie war unser Tag? Gehe ich müde an sein Ende oder treiben mich Ideen, Wünsche voran? Geruhsam entfaltet sich die Nacht; wenn ich möchte, mache ich sie zum Tag – diese Freiheit hat der moderne Mensch. Ich mag heute aber nicht, denn die Faszination des kontrastreich anschwellenden Sternenhimmels fängt mich ein. Ich blicke auf, staune, denke, erkenne mich wieder, bevor ich spät einschlafe in der ruhigen Gewissheit eines neuen Sonnenaufgangs, frei im Kräftespiel der Natur, so gänzlich frei von Orakeln, Götterfantasien und politischen Moden, eingeschränkt allein durch die stets allgegenwärtige und vertraute Möglichkeit, auch in dieser Nacht wie zu jedem anderen Zeitpunkt für immer einschlafen zu können. Ich bin Teil der Evolution.



© Raymond Walden



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