Mittwoch, 1. Januar 2020

Menschliches Glauben: Kann man Menschen mögen? (S.28)


November 1998

Der ZDF-Nachrichtensprecher entschuldigt sich am 27.8.98 für die nun folgenden Bilder: Uniformierte im Kongo haben an irgendeiner Flussbrücke einen Zivilisten der politischen Gegenseite aufgefunden, misshandeln ihn, werfen ihn über das Brückengeländer tief hinunter in den Fluss. Als der Geschundene wieder auftaucht, sich dem rettenden Ufer zubewegt, schicken die Mörder einige Gewehrsalven nach unten. An anderer Stelle zerren überwiegend junge Leute triumphierend einen verkohlten Leichnam an den Beinen über die Straße.
     Da zumindest die wachen Köpfe unter uns wissen, dass weltweit Ähnliches täglich geschieht, häufig ausgeführt von Individuen, die nicht einmal die Wörter „Gewehr“ und „Tod“, geschweige denn „Leben“ schreiben können, drängt sich folgende Frage auf: Was ist eigentlich „menschlich“?
     Die deutsche Sprache unterscheidet da nicht so genau. Ist damit „human“ gemeint oder bedeutet es so viel wie „unvollkommen“ und beschreibt oberflächlich hochgradige Dummheit, Verkommenheit und Verrohung?
     „Mögen Sie eigentlich Kinder?“ fragte mich ein Schüler. Ich schränkte ein: „Nicht alle, denn ich mag auch nicht alle Erwachsenen.“ Freilich war die Antwort von diplomatischer Natur, denn mein „Mögen“ beschränkt sich auf die im Großen und Ganzen Humanen, das Heer der „Menschlichen“ irritiert mich. Es wäre in der Tat unerträglich, gäbe es sie nicht doch – Menschen mit humaner Gesinnung. So mancher Freund irritiert mich allerdings, wenn ich ihn in bisher unbekannter, etwa opportunistischer oder gar esoterischer Rolle erlebe. Dann frage ich mich, ob und wie ich umgekehrt enttäusche. Denn dies ist offensichtlich: Guter Wille allein reicht in unserem Dasein eben nicht aus; der Verstand darf sich niemals einem „Fraktionszwang“ unterwerfen. Wo aber beginnt im Alltag Fraktionsdruck?
     Ich provoziere: in so mancher Ehe, ist doch die institutionalisierte Lebensgemeinschaft keineswegs nur die Zweierbeziehung, sondern gleichzeitig die gesellschaftliche Basis für sexuelle Doppelmoral mit allen daran anschließenden negativen Folgen. Die Partner, zunächst ausgestattet mit besten Vorsätzen und gutem Willen, sind später im Sumpf der Eifersucht allemal in der Lage, einen Menschen über das Brückengeländer zu werfen. Und eigentlich völlig unbeteiligte Moralisten, „Sonderermittler“, haben noch jeden ins Visier der abschießenden, selbst längst abgeschossenen Öffentlichkeit gezerrt.
     Beziehen wir das auf den US-Präsidenten Clinton, der ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit hat, trifft es doch nur einen Verfechter ebendieses Systems, in dessen gewinnsüchtigem Selbstverständnis noch jede Scheinheiligkeit honoriert wird, um sodann ins Lamentieren zu verfallen, wenn es die Situation erfordert.
     Allen Fundamentalisten, Nationalisten und Dogmatikern spreche ich Menschlichkeit ab. Aber versuche dem, der einen falschen Weg verfolgt, klar zu machen, dass er es tut – er wird es nicht verstehen. Ganz im Gegenteil, solche Leute halten sich oft wie Kohl im Wahlkampf für „Weltklasse“. In ihrer Wildwestmanier entscheiden sie aber über das Schicksal von Millionen. Und der Spieß wird in einer solchen Welt schnell umgedreht, indem derjenige, der nicht mitspielt, kurzerhand für verrückt erklärt wird.
     Zwei Dinge faszinieren mich indes: Es gibt echte Freundschaften und auch wahre Liebe, zumindest für manche Menschen, und es gelten objektive Naturgesetze. – Darin steckt so viel Hoffnung, so viel Dynamik.


© Raymond Walden




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