August
1998
Achtzig
Jahre nach dem Attentat auf die russische Zarenfamilie erfolgte jetzt
die feierliche und protokollarische Beisetzung der sterblichen
Überreste in St. Petersburg. Jahrzehntelang war nicht bekannt, wo
die Mörder ihre Opfer beseitigt hatten. Nun also für alle Zaristen
und reaktivierten Christgläubigen die pathetische Inszenierung, der
auch der russische Präsident beiwohnte.
Wem
nutzt ein solcher Trauerakt? Den Ermordeten jedenfalls nicht, denn
sie sind tot, sollte man meinen. Vorsorglich hat aber die
russisch-orthodoxe Kirche die Toten zu Heiligen erklärt und damit
für die Gläubigen eine Art Reinkarnation der Blaublütigen in Gang
gesetzt. Denn Heilige sind für die Religiösen zumindest so real,
dass man in Gebeten mit ihnen Kontakt pflegt. Abgesehen davon, dass
die Zarensippe zu Lebzeiten alles andere als „heilig“ war,
schafft man so die esoterische Überhöhung. Das russische
Glaubensvolk, heute unfähiger denn je, mit seinen Lebensmiseren
fertig zu werden, flüchtet sich in die veralteten Irrationalitäten
und erlebt wenigsten feierliche Stunden ergreifender Abgehobenheit
vom schmerzlichen Alltag. Die Kirche freut sich über ihre eigene
Renaissance und der Politfuchs Jelzin weiß, wie man Gläubige für
sich einnimmt, damit die eigenen Aussichten auf eine erfolgreiche
Wahl sich nicht chancenlos im Gottvertrauen verlieren.
Trauer kann die Toten
nichts mehr angehen. Diese unumstößliche Wahrheit könnte für
Trauernde eine Erleichterung bieten, denn letztlich reduziert sich
das Trauern auf das Empfinden der Lebenden. Trauer wird viel
erträglicher und sinnvoller, legt man die oft gehörige Portion
Selbstmitleid ab.
©
Raymond Walden