August
1998
Ich
befürchte, beides bejahen zu müssen. Mein Unbehagen bei dem
Gedanken wird belebt durch den Dualismus Sünde - Realismus, denn ich
kann zwar dieser Sünde absprechen, dass sie im Realen begründet
liegt, damit verschaffe ich dem Atheismus, dem Freisein von
Religion, aber keineswegs Bedeutung im Hier und Jetzt, denn die
Wirklichkeit in unserer verkommen spiritualisierten Gesellschaft
besteht im fortwährenden Sündigen in den Fesseln eines
praktizierten Anti-Atheismus: Wie sollte man denn alle wirklichen
Geheimnisse des Lebens, Zeugung, Geburt und Tod, schon anders
beschreiben als mithilfe von Spiritualität, sprich Religiosität?
Und ist Verliebtsein nicht göttlich? – Doch sind es nicht
Blindengötter, im jeweiligen Augenblicke die umnebelten Visionen von
dem einen, eigenen Gott, der sich, wie nicht nur der Scheidungsalltag
lehrt, zu oft als Traumgebilde erweist? Innerhalb solcher
Multivision, die dann auch noch persönliche Urheberrechte geltend
macht, verwechseln die Paare systemkonform Liebe, Eros und Sex,
übergewichten und unterschätzen, sodass sich Psychotherapeuten
jeglicher Art Gewinn schöpfend die Hände reiben.
Ich
pointiere: Eine Partnerschaft, die nur auf Sex aufbaut, ist
oberflächlich. Eine tiefere Partnerschaft, die wie auch immer am Sex
zerbricht, hat die eigentlich beanspruchte Qualität nie besessen.
Der Atheist könnte hilfreich erklären: Sex ist das eine, Liebe das
Erstrebenswertere, kommen beide zusammen, dann ....
Ersparen wir uns hier die
phantastischen Welten, nicht etwa um sie zu leugnen, sondern im Sinne
von Humanismus, also von Gleichberechtigung und Menschenachtung, ganz
bescheiden einzugestehen, dass die Masse der Weltbevölkerung mit dem
Weltbild „Atheismus“ hoffnungslos überfordert ist. Atheismus
erfährt seine Realität nur unter Aufgeklärten, denn was nützt das
sachliche Weltbild im Wust esoterischer Religionen!
Was
nützt Humanismus, was nützen klare menschliche Vorstellungen,
Wünsche, wenn Götter menschlichen Ursprungs – menschlich heißt
in dem Fall „irrfähigen, fehlerhaften Charakters“ – quasi aus
ihrer Phantasiegeburt heraus über auch nur einen Menschen erhoben
werden? Die moralischen Instanzen des Atheisten heißen
Menschenachtung, Bildung und Ehrlichkeit. Wer den Menschen achtet,
wird sich mit Interesse bilden, beides wichtige Voraussetzungen für
Ehrlichkeit – nicht nur gegenüber den Menschen, sondern in Bezug
auf die gesamte Natur. Atheismus wird allgemein menschenfreundliche,
moralische, also wertverbindliche, Instanz aus Einsicht – nicht
Diktat! Atheismus wird real und jede Sünde im Zusammenhang mit Sex
wird irreal, so Menschenachtung das Empfinden und Handeln bestimmt.
Eingestandenermaßen eine Zukunftsvision: Dogmatismus und Eifersucht
werden verifiziert als erniedrigende, von Religion begünstigte
Relikte, zum Ablegen bestimmt.
Keine
Realität lebt ohne die Vision – Vision aber meint nicht
Halluzination. Alles klebt förmlich an der Frage: Wird nicht nur das
Individuum, sondern wird vor allem auch der Massenmensch genügend
Verstand entwickeln? Ich traue im gegenwärtigen Standium der
Evolution der Masse wenig zu, denn Entwicklung allgemein stützt sich
nicht auf das passive Element, sondern lebt von Aktivisten.
©
Raymond Walden