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Mittwoch, 27. Mai 2020

Menschliches Glauben: Kann denn Liebe Sünde, Atheismus etwa realistisch sein? (S. 87)


August 1998

Ich befürchte, beides bejahen zu müssen. Mein Unbehagen bei dem Gedanken wird belebt durch den Dualismus Sünde - Realismus, denn ich kann zwar dieser Sünde absprechen, dass sie im Realen begründet liegt, damit verschaffe ich dem Atheismus, dem Freisein von Religion, aber keineswegs Bedeutung im Hier und Jetzt, denn die Wirklichkeit in unserer verkommen spiritualisierten Gesellschaft besteht im fortwährenden Sündigen in den Fesseln eines praktizierten Anti-Atheismus: Wie sollte man denn alle wirklichen Geheimnisse des Lebens, Zeugung, Geburt und Tod, schon anders beschreiben als mithilfe von Spiritualität, sprich Religiosität? Und ist Verliebtsein nicht göttlich? – Doch sind es nicht Blindengötter, im jeweiligen Augenblicke die umnebelten Visionen von dem einen, eigenen Gott, der sich, wie nicht nur der Scheidungsalltag lehrt, zu oft als Traumgebilde erweist? Innerhalb solcher Multivision, die dann auch noch persönliche Urheberrechte geltend macht, verwechseln die Paare systemkonform Liebe, Eros und Sex, übergewichten und unterschätzen, sodass sich Psychotherapeuten jeglicher Art Gewinn schöpfend die Hände reiben.
     Ich pointiere: Eine Partnerschaft, die nur auf Sex aufbaut, ist oberflächlich. Eine tiefere Partnerschaft, die wie auch immer am Sex zerbricht, hat die eigentlich beanspruchte Qualität nie besessen. Der Atheist könnte hilfreich erklären: Sex ist das eine, Liebe das Erstrebenswertere, kommen beide zusammen, dann ....
     Ersparen wir uns hier die phantastischen Welten, nicht etwa um sie zu leugnen, sondern im Sinne von Humanismus, also von Gleichberechtigung und Menschenachtung, ganz bescheiden einzugestehen, dass die Masse der Weltbevölkerung mit dem Weltbild „Atheismus“ hoffnungslos überfordert ist. Atheismus erfährt seine Realität nur unter Aufgeklärten, denn was nützt das sachliche Weltbild im Wust esoterischer Religionen!
     Was nützt Humanismus, was nützen klare menschliche Vorstellungen, Wünsche, wenn Götter menschlichen Ursprungs – menschlich heißt in dem Fall „irrfähigen, fehlerhaften Charakters“ – quasi aus ihrer Phantasiegeburt heraus über auch nur einen Menschen erhoben werden? Die moralischen Instanzen des Atheisten heißen Menschenachtung, Bildung und Ehrlichkeit. Wer den Menschen achtet, wird sich mit Interesse bilden, beides wichtige Voraussetzungen für Ehrlichkeit – nicht nur gegenüber den Menschen, sondern in Bezug auf die gesamte Natur. Atheismus wird allgemein menschenfreundliche, moralische, also wertverbindliche, Instanz aus Einsicht – nicht Diktat! Atheismus wird real und jede Sünde im Zusammenhang mit Sex wird irreal, so Menschenachtung das Empfinden und Handeln bestimmt. Eingestandenermaßen eine Zukunftsvision: Dogmatismus und Eifersucht werden verifiziert als erniedrigende, von Religion begünstigte Relikte, zum Ablegen bestimmt.
     Keine Realität lebt ohne die Vision – Vision aber meint nicht Halluzination. Alles klebt förmlich an der Frage: Wird nicht nur das Individuum, sondern wird vor allem auch der Massenmensch genügend Verstand entwickeln? Ich traue im gegenwärtigen Standium der Evolution der Masse wenig zu, denn Entwicklung allgemein stützt sich nicht auf das passive Element, sondern lebt von Aktivisten.


© Raymond Walden