Dezember
2001
Ein
deutscher Pädagoge meldete sich Ende 2001 zu Worte und erlebte ein
seltsames Wechselbad der Gefühle. Hier zunächst der authentische
Text:
„Als
Lehrer einer Hauptschule mit 30 Jahren Berufserfahrung vertrat ich
schon lange die Auffassung, dass nur eine weitgehend gleichgültige
Öffentlichkeit die Augen vor dem Bildungsskandal in Deutschland
derartig verschließen kann, dass es jetzt einer Vergleichsstudie
(Pisa) quasi als Signal von außen bedurfte, den Missstand ungeschönt
wahrzunehmen. Allein, die aufgescheuchte Reaktion auf die Studie
beweist die pädagogische Orientierungslosigkeit der Gesellschaft,
die ja dieses (Un-)Bildungssystem hervorbrachte. Im einfachsten und
dümmlichsten Falle kritisiert man jetzt die Lehrer, und als solcher
möchte ich an den Werdegang des Desasters erinnern.
Da
gab es einmal eine „Ganzheitsmethode“, mit der Schüler
wirkungsvoller schreiben und lesen lernen sollten. – Fehlschlag!
Die
Mathematiker folgten der Philosophie der Mengenlehre. –
Fehlschlag!
Geisteswissenschaftliche
(„Schwafel"-)Fächer traten in den Vordergrund, die
Naturwissenschaften wurden vernachlässigt.
Rechtschreibung
wurde zumindest in der Hauptschule erst in den Nebenfächern, bald
auch in Englisch (Vokabeln lernen überflüssig!) und dann sogar in
Deutsch immer weniger oder gar nicht bewertet.
Bildete
man zunächst aus etwa zehn verschiedenen Hauptschulen ein 10.
Schuljahr für die besten Schüler zum Erwerb des Realabschlusses,
dauerte es gar nicht lange, und fast jede Hauptschule richtete ein
10. Schuljahr ein. Möglich war das nur durch drastische Senkung der
Leistungsanforderungen - eine Augenwischerei ohne Beispiel!
Wenig
später wurde ein weiterer 10. Jahrgangstyp A eingeführt, der de
facto keine höhere Qualifikation darstellt als der Abschluss der 9.
Klasse. Völlig demotivierte und frustrierte Schüler werden ein
Jahr lang verwahrt!
Gab
es vor einigen Jahren noch Förderschulen, die Aussiedler- und
Ausländerkinder in ihren sprachlichen Problemen auffingen,
integriert man heute an Hauptschulen häufig, indem diese Kinder mit
oft geringsten deutschen Sprachkenntnissen einfach in die
Regelklassen kommen – mit all den sozialen Konflikten, die
gewaltsam hochkochen.
Der
Kinderanteil fremder Kulturgruppen erreicht in vielen Klassen mehr
als 75% – wer soll hier wohin und wie integriert werden?
Aus
diesem Spannungsfeld heraus und auch aus einem fatalen
Erziehungsversagen der Elternhäuser erwächst eine gnadenlose
Disziplinlosigkeit der Schüler gegenüber Mitschülern, Lehrern und
schulischen Einrichtungen. Und die Schulministerien nahmen den
Lehrern nahezu alle Möglichkeiten, Disziplin durchzusetzen, es sei
denn, in einem Verwaltungswust „Klassenkonferenzen" zu
organisieren, die sehr oft ausgehen wie das Hornberger Schießen.
Ohne ein Mindestmaß an Disziplin und Ordnung ist Schule ein Zirkus,
ein Schmierentheater.
Der
Elternwille wird im gesamten Schulwesen überbewertet und führt zu
grotesken Entscheidungen der Schulträger, Schulverwaltungen und
pädagogischen Konferenzen, denn viele Eltern sind schlicht
inkompetent, sachunkundig, von falschem Ehrgeiz getrieben und leider
oft Versager in der Kindererziehung. Die Defizite arbeitet keine
Schule auf.
Wenn
es stimmt, dass 25% der Schulanfänger Sprachstörungen aufweisen,
dann hat daran kein Lehrer Schuld, es sei denn die seinerzeitigen
Lehrer der Eltern, die jetzt zu Hause die Kommunikation nicht
pflegen können! Doch ich versichere, da ich jetzt ja solche Eltern
vor mir habe, die ich selbst unterrichtete: Wir als Lehrer konnten
schon damals wenig retten, was in Familien schiefging.
Es
hat sich pädagogisch weithin eingebürgert, den schwächeren
Schülern über das normale Maß hinaus Aufmerksamkeit und Förderung
zukommen zu lassen, eindeutig zu Lasten der normalen Schüler, denn
der Lernfortschritt der gesamten Klasse wird auf diese Weise
gebremst. Das Ergebnis zeigt die Studie Pisa!
Die
Eingangsklassen 5 der meisten Hauptschulen sind echte
Restschulklassen, denn aus den Grundschulen strebt alles, unter den
Verhältnissen verständlich, in andere Schulformen. Ich habe
wiederholt 5. Klassen an der Hauptschule geleitet: Vielleicht 10 bis
20 % der Kinder waren nicht verhaltensauffällig, das heißt, die
große Mehrheit ist gestört.
Das
Ergebnis basiert sicherlich auch, aber nicht nur auf der
Kuschelecken- und Spielpädagogik der Grundschulen, die mit viel zu
viel weiblichen Lehrkräften eine ungesunde Lebenssituation
repräsentieren.
Anstatt nun diesen und vielen
weiteren Missständen klar zu begegnen, favorisieren
Bildungspolitiker „autonome Schulen" die im Konkurrenzkampf
untereinander stehen. Die Folgen sind vorhersehbar; es wird nach
außen noch mehr gelogen, was die jeweilige Schule angeblich leiste.
Modetrends und Schülereinzugsbereiche der unterschiedlichen
Sozialschichten werden das hervorbringen, was nicht nur in den USA
zu bestaunen ist: eine desaströse Allgemeinbildung, und die Reichen
schicken ihre Kinder auf teure Elite- bzw. Privatschulen.
In
allen Berufen gibt es engagierte und auch weniger geeignete Personen,
so auch natürlicherweise bei den Lehrern; übrigens auch bei
Hochschullehrern, die hauptsächlich manchen pädagogischen Unsinn zu
verantworten haben. Ein System der Leistungskontrolle auch bei
Lehrern ist berechtigt, mindestens ebenso berechtigt ist die
Kontrolle der Kultusministerkonferenz, unter deren Mitgliedern seit
Jahren die Inkompetenz fröhliche Urständ feiert, denn diese
Herrschaften denken gerne nur in Wahlperioden und sind von Pädagogik
offensichtlich ganz weit entfernt.
Letzteres gilt übrigens auch für
viele Gymnasiallehrer, in deren Ausbildung Pädagogik viel zu kurz
kommt.
Eine
weitere Täuschung ist die Gesamtschule: Viel Gerede (Konferenzen)
und nicht mehr Effizienz! Massenverschulung auf der Basis von
Gleichmacherei, Anonymität und auch Negierung unterschiedlicher
Begabungen, Talente und Bedürfnisse.
Wenn
nun Politiker und ihre Berater glauben, auf das miserable Abschneiden
deutscher Schüler im internationalen Vergleich mit
„Diagnosefähigkeiten" der Lehrer für lese- und
rechtschreibschwache Schüler reagieren zu müssen, offenbart sich
der Diagnosebedarf für eben solche Schwätzer! Lehrer sollten in
erster Linie lehren, Lernwillige fördern und zur Leistung
motivieren. Diagnostizieren ist vor allem eine Aufgabe von
Medizinern, Psychologen und Psychiatern.
Ferner
sollte man nicht länger falsche Zusammenhänge mit Computern
knüpfen, denn die Ausstattungen der Schulen sagen zunächst gar
nichts über die Qualität des Bildungssystems aus. Vor jeden
Bildschirm gehört erst einmal ein denkfähiger Kopf, das Denken
spielt sich aber vorrangig in der Muttersprache ab, also ist diese in
jedem Fall als zu beherrschendes Grundhandwerkszeug unverzichtbar.
Der
Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her, ganz besonders auch, wenn sich
Medienkonzerne in die Bildung finanzkräftig einmischen und
„Medienerziehung" an den Schulen fordern. Was diese TV-,
Rundfunk- und Pressemacher zunehmend an Schund in die Familien
senden, ist schulisch nicht zu entsorgen.
Da
mag es symptomatisch anmuten, wenn die beamtendeutschen Begriffe
„Allgemeine Schulordnung" amtlich mit „ASCHO" und
„kollegiumsinterne Fortbildung" mit „KIF" abgekürzt
werden; jegliches Sprachgefühl ist offensichtlich verloren gegangen!
Jahrelanges
Zusehen, wie die Lehrerschaft in Ermangelung von Neueinstellungen
überalterte, schamvolles Verschweigen, dass immer mehr Lehrer in
diesem Chaos resignieren, erkranken und vorzeitig den Ruhestand
antreten, das sind weitere Versagen der parteiideologisch und nicht
pädagogisch ausgerichteten Ministerien und untergeordneten Stellen.
Allen demokratischen Parteien ist dieses Versagen anzukreiden, das
überhaupt nicht für Wahlkämpfe taugt, auch wenn manche schon
wieder ihr Parteisüppchen kochen möchten. Das Desaster ist viel
schwerwiegender: Die Mündigkeit des Bürgers wurde und wird
dilettantisch verhindert, ausgehebelt durch grenzenloses
Anspruchsdenken, durch Egoismus, Familien- und Kinderfeindlichkeit,
durch weinerliche Unbelastbarkeit und durch die Flucht vor jeder
Anstrengung. Denn Schule muss auch Anstrengung wert sein, dann erst
kann Freude an der Leistung, am Erfolg aufkommen. Dazu braucht es
jetzt in dieser Gesellschaft besonnener Zivilcourage.“
Nach
Erscheinen der vernichtenden Bilanz in einer Tageszeitung (ohne die
Ausführungen über die Gesamtschule) folgte ein überwältigendes
positives Echo, der Artikel fand durch ungezählte Kopien Verbreitung
bis ins benachbarte Ausland. Ein emeritierter Professor zollte
höchstes Lob und gestand ähnlich wie viele andere
Pädagogik-Pensionäre, in seiner aktiven Zeit in der
Lehrerausbildung nicht mutig genug gewesen zu sein, seine Stimme zu
erheben.
Als
der Kritiker, selbst ohne Parteizugehörigkeit, schließlich auch
noch bei politischen Veranstaltungen zum Thema referierte, wurde er
auf Druck einflussreicher Schulleiter zum Schweigen gezwungen.
©
Raymond Walden
Redaktionelle
Ergänzung:
Der
Artikel erschien auch auf diesem Blog schon am 29.06.2009,
nachzulesen => hier.
Die
meisten Hauptschulen sind inzwischen geschlossen, pädagogisch und
organisatorisch abgewirtschaftet, politisch vernachlässigt und
fehlgeleitet!
Wie
haben sich die Verantwortlichen auf den damals aktuellen Homepages
der jeweiligen Schulen, auch im Konkurrenzkampf untereinander, selbst
und den Eltern etwas vorgelogen!
Zu
wie vielen „Fortbildungen“ wurden Lehrer verpflichtet, wie viele
Arbeitszeit investierte man für die Erstellung der Internetseiten
mit den jeweiligen rosigen „Schulprogrammen“!
Alles
war erkennbar für denkende Pädagogen, doch die waren eher nicht
gewünscht, sondern Konforme und Opportunisten!
Das
„schillernde“ Schülerpotenzial des gescheiterten Schulsystems
hat sich selbstredend mit dem Verschwinden der Schulform nicht
aufgelöst; es wurde von den gegenwärtigen, so überaus
„integrierenden“ Schulformen adaptiert – mit unveränderten
Täuschungen der Öffentlichkeit bezüglich des Niveaus.