März 1995
Vertraut man dem „Westfalen-Blatt“ in Bielefeld und seiner Paderborner Variante „Westfälisches Volksblatt“, so wird das Glauben an die Bibel zu einem abgeschnittenen alten Zopf; ab jetzt gibt es „Beweise für die Wahrheit der Bibel“, denn winzige Papyrus-Schnipsel „belegen“ das „Jesus-Wort“.
„Sensationelle Entdeckung“ jubelt die ergebene Gazette, die es beispielsweise beharrlich vermeidet, über die Kontroverse des abtrünnigen Theologen Drewermann mit dem Paderborner Erzbischof zu berichten. Am 30.12.1994 ergoss sich in großer Aufmachung ostwestfälisch-lippisches Wissenschaftsverständnis über die Leserschaft, das im Zitat des Wissenschaftlers gipfelte: „Meinen Glauben kann ich nicht auf der Existenz von Papyrus-Fragmenten begründen, aber sie vervollständigen die Kette von Belegen, dass die Bibel doch Recht hat.“ – Wer hatte da was entdeckt?
Der in Paderborn am „Institut für Bildung und Wissen“ (ibw) wirkende Historiker, Dr. Carsten Peter Thiede (42), weltweit als „Papyrus-Papst“ bekannt, stieß an der Universität Oxford auf drei Papyrus-Fragmente, die dort jahrzehntelang unbeachtet geblieben waren. In den 50er-Jahren war das Alter der nur zwei mal drei Zentimeter kleinen Schnipsel auf das 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung datiert worden. Innerhalb umfangreicher Erforschungen neutestamentarischer Papyri erkannte Thiede auf den genannten Bruchstücken eindeutig vorchristliche griechische Schrifttypen, deren Verwendung bereits Mitte des 1. Jahrhunderts geendet hatte. Damit ist für den Forscher klar, dass es sich um die, so die Zeitung, „älteste Abschrift des Matthäus-Evangeliums“ handelt, „das älteste Fragment des Neuen Testaments überhaupt“. Die Fragmente sind also 100 Jahre älter als bisher angenommen und avancieren somit zum „Augenzeugenbericht über das Leben Christi“.
Der Skeptiker darf anmerken, dass ein Augenzeugenbericht keineswegs ein Beweis für die Wahrheit sein muss. Thiede will in Zusammenarbeit mit der Erzbischöflichen Bibliothek in Paderborn ein wissenschaftliches Archiv über die Papyrus-Forschung aufbauen. Gemeinsam mit einem Biologen der Paderborner Universität-Gesamthochschule hat er ein Epi-Fluoreszenzmikroskop für die Papyrusforschung entwickelt.
Nichts ist einzuwenden gegen eine wissenschaftlich fundierte Altersbestimmung der Bibel ebenso wie anderer religiöser Bücher. Zu beanstanden ist mit Nachdruck die Missdeutung von Wissenschaft im Hinblick auf den Bibelinhalt, der größtenteils nicht nur unbeweisbar bleibt, sondern in zahlreichen Aussagen definitiv wissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht.
Es wird wohl so sein, dass Thiede auch weiterhin seinen Bibelglauben „wissenschaftlich“ verbreitet, ist er doch „überzeugter Christ“, Zugehöriger der Anglikanischen Kirche, die ihre Gründung einem heiratswütigen und Gattinnen mordenden König, nämlich Heinrich VIII., verdankt. Der „Paderborner Christus-Forscher“ (Originalformulierung der Zeitung) konnte angeblich früher schon mit anderen Kollegen zusammen anhand der Photogrammetrie die Identität des Christus-Grabes in der Grabeskirche von Jerusalem beweisen. Und er will von einem Computerspezialisten des Stuttgarter Planetariums untermauerte Belege dafür gefunden haben, dass der Weihnachtsstern zur Zeit der Christus-Geburt tatsächlich als Himmelsphänomen erschienen sei. Sachliche Astronomen weisen indessen darauf hin, dass bei der Unsicherheit über das Christus-Geburtsdatum vieles Spekulation bleibe und dass die in den Planetarien in diesem Zusammenhang bevorzugt genannte, weil publikumswirksame Jupiter/Saturn-Konjunktion eine sehr willkürliche Interpretation regelmäßig ablaufender Himmelsgeometrie darstelle.
Es ist nicht bekannt, dass sich irgendeine Universität oder ein Institut, noch eine Redaktion von der Thiedeschen „Wissenschaftlichkeit“ distanziert hätte.
© Raymond Walden
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