November
2001
Wer
nicht verlernt hat, auch die Faszination toter Materie zu genießen,
mag nachvollziehen, warum der Mond uns Menschen gefangen nimmt. Ich
rede nicht von esoterischen Schwärmereien, vielmehr von Erfahrungen,
gesammelt etwa am Kraterschlund des Ätna, angesichts der
Landschaftsformationen um Las Vegas, bestätigt durch den scharfen
Fallwind auf der Südflanke Kretas oder durch die bizarre, Ewigkeit
vortäuschende Vulkankomposition Gran Canaria; die Erde ist übersät
mit derartigen Naturdokumenten.
Und
der Mond präsentiert sich nicht anders: für unabsehbare Zukunft
schroff, schön und tot. Kein Stein besitzt Gefühle, noch ein
Bewusstsein, aber er kann dadurch beeindrucken, dass er quasi
unsterblich ist, existent über Jahrmillionen, einfach da, während
wir so schnell altern und sinnvollerweise vergehen. Denn was wäre
versteinerte Menschlichkeit?
Wir
unterliegen einem viel kürzeren Werdegang, der ja Leben erst
ausmacht, und so betrachten wir den leblosen Mond mit Emotionen. Er
ist unser bestens vertrauter kosmischer Nachbar und dennoch so fern.
Auf alle unsere subjektiven Interpretationen hin schweigt er, es sei
denn, wir öffnen uns, die leblose Materie bestaunend, die dann in
den Licht-Schatten-Spielen des Erdtrabanten so viel Erhabenheit
ausstrahlt.
Die
Sonne beleuchtet immer nur eine Hälfte des dunklen Körpers. Wir
verbinden mit der Abfolge der Mondphasen sogar unseren irdischen
Monat, ein Zeitmaß, letztlich einen Sektor unserer persönlichen
Lebensspanne. – Der zunehmende Mond folgt nach Sonnenuntergang am
Abendhimmel mit dem bekannten täglichen Gewinn an Lichtgestalt.
Besonders am Zyklusanfang schimmert die unbeleuchtete Mondregion
aschgrau, denn die Mondnacht wird durch eine „Vollerde“ erhellt.
Unser Heimatplanet reflektiert Sonnenlicht zum Mond, von wo aus ein
geringer Teil wieder zur Erde geworfen wird. Der Vollmond steht der
Sonne diametral gegenüber, am höchsten um Mitternacht zur Zeit des
tiefsten Sonnenorts unter dem Horizont. Als abnehmender Mond
beleuchtet der Trabant die zweite Nachthälfte, täglich schmaler,
bis er sich als Neumond am Taghimmel zur Sonne gesellt.
Gerade einmal sieben Prozent des
auftreffenden Sonnenlichts wirft der Mond zurück, und diese
bescheidene Menge wird besonders in Horizontnähe durch die
Erdatmosphäre weiter gedimmt, indem vor allem das blaue Licht je
nach Feuchtigkeits - und Schwebstoffgehalt der Luft absorbiert und
gestreut wird, sodass der Mond im langwelligen rötlichen
Spektralbereich romantisch erscheint. Auch für die scheinbare
Vergrößerung des Mondes in Horizontnähe ist die irdische Luft
maßgeblich, sie wirkt gegenüber dem kosmischen Vakuum wie eine
Linse und zusätzlich mischen sich psychologisch bedingte persönliche
Sehgewohnheiten in das Bild vom Mond.
Übrigens steht der Sommervollmond
immer tiefer als der Wintervollmond, und, wie schon erwähnt, der
Sonne diametral gegenüber. Also: hohe Sommersonne – tiefer
Vollmond, flache Wintersonne – steiler Vollmond. Ebbe und Flut
erzeugt der Mond im Zusammenspiel mit der Sonne unmittelbar durch
Gravitation auf die Wassermassen während des Erdumlaufs. Der
gemeinsame Schwerpunkt des Doppelplaneten Erde-Mond liegt aufgrund
der geringen Mondmasse innerhalb des Erdkörpers, jedoch nicht im
Erdmittelpunkt. Demzufolge webt die Erde ihre Bahn um die Sonne um
diesen Schwerpunkt, was in geringerem Maße ebenfalls zum Schwappen
der Ozeane im entsprechenden Rhythmus beiträgt. Dem Kommen und Gehen
der Wassermassen haben sich in zahlreichen Küstenregionen
biologische Zyklen angepasst, zum Beispiel solche der Fortpflanzung.
Das menschliche Leben ist jedoch viel komplexer, als dass es lunaren
Gezeiten folgen würde. So können wir den Mond befreit betrachten,
uns hingeben der persönlichen Stimmung, ohne Mondsüchtigkeit und
Deutungsschwere, man gönne sich die Zeit!
An
irdischen Markierungen wie dem Horizont, den Bäumen, Bergen,
Gebäuden lässt sich die stetige Ostwestbewegung des Mondes als
Ergebnis der Erddrehung verfolgen. Bei geduldigem, genauen Hinsehen,
gar durch ein Fernglas, bemerkt man die Eigenbewegung des Mondes vor
dem Sternenhintergrund als Ausdruck des Umlaufs um die Erde in
Westostrichtung. Dabei kann es zu Stern-, seltener
Planetenbedeckungen kommen: Der im Mittel 384.400 km von uns
entfernte Mond schiebt sich vor einen Stern, der Lichtjahre tief im
Universum residiert. Ganz plötzlich erlischt nun scheinbar der Stern
am lunaren Ostrand, um nach dem Vorbeizug des Erdtrabanten an seinem
Westrand wieder unvermittelt aufzutauchen. Es gibt keine
Mondatmosphäre, die das Sternenlicht schwächt, daher das abrupte
Verlöschen und Wiedererstrahlen. Durchschnittlich in einer Stunde
wandert der Mond am Himmel um seinen eigenen Durchmesser weiter, etwa
0.5 Grad in östliche Richtung. – Für den intelligenten Menschen
lässt sich die Diskussion über die Bedeutung des Mondes nicht auf
Boulevard-Niveau führen.
Das
Auge nimmt sich die Zeit, mir die Weite des kalten Himmels zu
vermitteln, eines Himmels, der dennoch in seiner blauschwarzen
Unergründlichkeit Wärme, ja sogar Geborgenheit erzeugen kann. Ich
bin eins mit der Weite, als Teil des Kosmos hier zu Hause.
Wie
zernarbt, faltig und trotzdem glatt der Mond aussieht! 150 Grad
Celsius Hitze auf seiner Taghälfte und fast ebenso viele Grad Frost
in der Mondnacht haben die Oberfläche gegerbt, die zusätzlich einem
fortwährenden Bombardement von Meteoriten schutzlos ausgebreitet
ist. Welch eine Oase dagegen unsere Erde, die jegliches Leben vor
derartig feindlicher Schönheit schützt.
Der
Mond, er „geht so stille“, auch ich werde still, will jetzt
nichts sagen. Und wenn mich gerade ein lieber Mensch hier oder fern
in meiner Betrachtung begleitet, ist für diesen Augenblick unseres
Daseins alles gesagt.
©
Raymond Walden