November
1998
Dem
61 Quadratkilometer großen Staat nähern sich die meisten Besucher
von Norden kommend über Rimini. Nachts schon von Weitem erkennbar
sind die mit Lichtern übersäten Berghänge, die hinaufführen zur
eigentlichen Festung San Marino. Tagsüber, vielleicht via Ravenna
die SS16 entlangfahrend, fallen vor allem dunkelhäutige, sich
freizügig prostituierende Frauen auf. Der Straßenaufstieg zur
Republik San Marino ist sauber von zwielichtigem Sex, aber mit
kommerziellem Schilderwald zugewuchert, der Verkehrs- und
Hinweisschilder nicht selten ab- oder zuschattet. „Continua 50“
wird auf den meisten Straßen signalisiert; das heißt offensichtlich
für Einheimische (ungefähr 25.000), möglichst schnell überholen
zu müssen. Aber keine Frage: Hier stimmt die Infrastruktur; die
grandiose Landschaftskulisse und die Menschen laden ein zum Verweilen
und Genießen.
Dennoch
kommen mir Zweifel im Ambiente der ungezählten kleinen Läden und
Boutiquen, die in steilen Gassen ideale Motive für Fotografen
abgeben. Das Sortiment quillt über, beschränkt sich aber auf
folgende Bereiche: Schmuck- und Lederwaren, Uhren, Parfüms,
natürlich Briefmarken, Keramik, Touristenplunder, verkitschte
Heiligensymbole, Alkoholika in verführerischen Flaschen und Waffen
aller Art, aus verschiedensten Epochen, vom Schlagstock, Schlagring
oder Dolch, von Handschellen, Peitschen, Pistolen bis hin zur
legendären Uzi, der automatischen Schnellfeuerwaffe aus Israel. Eine
Hauptattraktion ist das Museum der antiken Folterwerkzeuge. Besonders
an Wochenenden knallen schon zu früher Morgenstunde an den
Berghängen die Büchsen der wehrhaften San-Marinesen; man sagt mir,
es seien Vögel im Visier. Wie auch immer, das Schießen ist
salonfähig.
Die
Frage sei gestattet, ob die san-marinesische Demokratie nicht aus
tiefster Provinzialität heraus definiert und heute vor allem
publikumswirksam vermarktet wird. Zwar setzt man hier zweimal pro
Jahr demokratisch und besonders feierlich die beiden Oberhäupter des
Staates ein, doch die katholische Staatsreligion dürfte wohl kaum
andersdenkende oder ungläubige Repräsentanten zulassen. Die
gesetzlichen Feiertage sind im Wesentlichen eine lange Auflistung der
Kirchenfeste. San Marino ist eine Demokratie, die in globaler Denkart
bestenfalls eine Puppenstubenidylle verkörpern kann. Hier wurzelt
zwar das Prinzip von Demokratie und Toleranz, die Entwicklung ist
aber auf einer Vorstufe stecken geblieben, mit einem seltsamen Hang
zur Waffentradition. Daran ändert auch die stilisierte große
Sanduhr nichts, die die atomare Abrüstung der letzten Jahre
darstellt und deren Fortsetzung einfordert.
So
vermittelt der Monte Titano als Festungssitz zwar rein äußerlich
beeindruckende Weitsicht, philosophisch und psychologisch hingegen
eher Enge. Und das, obgleich San Marino erfreulicherweise von keinem
Adelsgeschlecht abhängig ist.
©
Raymond Walden