Freitag, 20. Dezember 2019

Menschliches Glauben: "Auf Rügen mit Licht" (S. 19)


Juni 1997

In der Tat erinnern auf Rügen vor allem die Sommerabende ein wenig an die verklärenden Lichtverhältnisse Schwedens, wo man das Auto auch tagsüber "mit Licht" bewegt. Die Rüganer gelten als forsche Kraftfahrer mit entsprechend hohen Unfallraten, die unter anderem "mit Licht" reduziert werden sollen.
     Für mich hat die Insel zweifellos eine ganz eigenartige Beziehung zur Lebendigkeit wie auch zu einer rauen Abgestumpftheit. Ich bin wiederholt hierhergekommen, weil Freunde (wie ich aus dem Westen) nach der Vereinigung Deutschlands einen völlig heruntergekommenen Kotten aufgekauft haben, um ihn nun seit Jahren äußerst arbeitsintensiv in ein Schmuckstück zu verwandeln. Baustoffe und selbst Arbeitskräfte sind aus NRW herangefahren worden, weil es aus vielfältigen Gründen auf Rügen keine Möglichkeiten gegeben hat. An vielen Stellen der Insel zeigt sich dieses Phänomen eines bescheidenen Einsatzwillens, der daran schuld ist, dass sich ganze Straßenzüge und Hinterhöfe immer noch in wenig ansprechendem Zustand befinden. Ein erfolgreicher Landwirt erzählt stolz, er habe ein einziges Mal die Insel verlassen – bis Stralsund sei er gekommen! Und es gelüste ihn keineswegs zu reisen.
     Ich höre den Radiosender Nordvorpommern mit einem Wunschkonzert, das gut 40 Jahre alt sein könnte, vernehme Reportagen, die an Naivität, Gestrigkeit und Plattheit die Gegend einnorden. Hier geht es bieder zu, FKK an den herrlich weiten, zumeist windigen Sandstränden ist hier kein Zeichen von "Offenheit". Eher symbolisieren die lichtdurchfluteten Mischwälder die beschauliche Reserviertheit, die keineswegs Unfreundlichkeit meint. Dies alles nun mit dem "Ossi-Wessi-Gegensatz" erklären zu wollen, scheint unangebracht. Was man wahrnimmt, ist nichts anderes als ein Teil Gesamtdeutschlands. Die Deutschen hier sind und waren immer so, weisen wie die Bewohner anderer Landstriche gleichermaßen ihre Eigenheiten auf, unterscheiden sich aber eigentlich nur durch Oberflächenmerkmale von ihnen.
     Ich verhehle nicht, dass ich erst jetzt so richtig die heimatfreundliche Deutschtümelei auf allen Medienkanälen wahrnehme. Seit Wiederherstellung der deutschen Einheit überbieten sie sich an Volkstümlichem, das freilich seinen Stellenwert besitzt, aber nun geradezu mit System ins Schnulzenhafte abfährt. Deutschland ist so! Ich persönlich mag diese Seite deutscher Lebensart nicht, registriere aber auch in anderen Ländern den Rückfall in einen banalen Fundamentalismus heimatlicher Klangschwülste.
     "In Europa mit Licht" – solchermaßen möchte ich die Rüganer Verkehrsinitiative umwandeln; allein Licht beseitigt keine Kurzsichtigkeit.


© Raymond Walden




Keine Kommentare: