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Sonntag, 29. Dezember 2019

Menschliches Glauben: Angesichts der Insel Vilm (S. 27)


August 1998

Nur wenige Menschen kommen je auf den Vilm, jene kleine Insel von nicht einmal 100 ha, die südöstlich von Rügen im touristischen Schatten weilt und mehr vom Leben offenbaren kann als die neu erwachenden Rüganer Strandpromenaden. Denn auf Vilm hat das Leben wieder zu sich selbst gefunden.
     Verschiedene Umstände bescherten über einige Jahrhunderte hinweg der Insel eine relative Freiheit vom Menschen und gewährten damit der Pflanzen- und Tierwelt sowie der Küsten formenden Kraft des Meeres jene Selbstentfaltung, die Zeugnis ablegt für die Vergänglichkeit und die bescheidene Bedeutung des Individuums im Zeitmaß der Evolution.
     Maximal 30 Besucher täglich, heißt es, seien erlaubt, im Jahresschnitt sind es eher weniger. Wenngleich die Natur das eigentliche Inselerlebnis birgt, gibt es da einen philosophischen Ansatz.
     1959 wurde der Vilm für Besucher gänzlich gesperrt, und man baute eine Ferienhaussiedlung für hohe Staatsfunktionäre. Offensichtlich wollten die Kommunisten sich hier ein kleines Paradies bauen, leicht abschirmbar durch die seichten Boddengewässer, gut zu versorgen vom Rügener Hafen Lauterbach aus, doch irgendwie verraten die Anordnung und die geradezu sparsame Architektur der Häuser, dass die Erbauer von einem luxuriösen Lebensstil westlicher Prägung keine Ahnung hatten. Oder fühlten sie sich hier zu eng an ihrem eigentlichen Leben? Mag das auch der Grund dafür sein, dass die Anlage überhaupt wenig genutzt wurde? Seit 1990 dienen die einfachen Häuser der Internationalen Naturschutzakademie Insel Vilm als Forschungs- und Tagungsstätten.
     Lässt man die paar Häuser hinter sich, gelangt man in Wälder mit bis zu 300 Jahre alten Buchen, bizarr geformte alte Eichen haben so manches Wetter überdauert. Seit über 400 Jahren ist kein Baum mehr geschlagen worden. Der Urwald zeigt sich in allen Phasen seiner Entwicklung: als Blüte, Sämling, Trieb, als stattlicher Baum in kraftvoller Ganzheit und als modernder Tod, voller Schönheit, Ehrfurcht gebietend und zugleich etwas Schauder hervorrufend. Die Mücken scheinen nur die Einheimischen zu schonen. Auf kürzester Strecke wechseln die Küstenformationen, erzählen von der fernen Eiszeit und nahezu täglichen Abrissen, Anlandungen.
     Wer bist du, Wanderer, der nach wenigen Bootsminuten hier landet?
Hast du Augen, Ohren und Verstand, um zu erkennen, was Lebenszeit, was
Evolution heißt? Denn Du bist ihr Kind! 

 
© Raymond Walden



Freitag, 20. Dezember 2019

Menschliches Glauben: "Auf Rügen mit Licht" (S. 19)


Juni 1997

In der Tat erinnern auf Rügen vor allem die Sommerabende ein wenig an die verklärenden Lichtverhältnisse Schwedens, wo man das Auto auch tagsüber "mit Licht" bewegt. Die Rüganer gelten als forsche Kraftfahrer mit entsprechend hohen Unfallraten, die unter anderem "mit Licht" reduziert werden sollen.
     Für mich hat die Insel zweifellos eine ganz eigenartige Beziehung zur Lebendigkeit wie auch zu einer rauen Abgestumpftheit. Ich bin wiederholt hierhergekommen, weil Freunde (wie ich aus dem Westen) nach der Vereinigung Deutschlands einen völlig heruntergekommenen Kotten aufgekauft haben, um ihn nun seit Jahren äußerst arbeitsintensiv in ein Schmuckstück zu verwandeln. Baustoffe und selbst Arbeitskräfte sind aus NRW herangefahren worden, weil es aus vielfältigen Gründen auf Rügen keine Möglichkeiten gegeben hat. An vielen Stellen der Insel zeigt sich dieses Phänomen eines bescheidenen Einsatzwillens, der daran schuld ist, dass sich ganze Straßenzüge und Hinterhöfe immer noch in wenig ansprechendem Zustand befinden. Ein erfolgreicher Landwirt erzählt stolz, er habe ein einziges Mal die Insel verlassen – bis Stralsund sei er gekommen! Und es gelüste ihn keineswegs zu reisen.
     Ich höre den Radiosender Nordvorpommern mit einem Wunschkonzert, das gut 40 Jahre alt sein könnte, vernehme Reportagen, die an Naivität, Gestrigkeit und Plattheit die Gegend einnorden. Hier geht es bieder zu, FKK an den herrlich weiten, zumeist windigen Sandstränden ist hier kein Zeichen von "Offenheit". Eher symbolisieren die lichtdurchfluteten Mischwälder die beschauliche Reserviertheit, die keineswegs Unfreundlichkeit meint. Dies alles nun mit dem "Ossi-Wessi-Gegensatz" erklären zu wollen, scheint unangebracht. Was man wahrnimmt, ist nichts anderes als ein Teil Gesamtdeutschlands. Die Deutschen hier sind und waren immer so, weisen wie die Bewohner anderer Landstriche gleichermaßen ihre Eigenheiten auf, unterscheiden sich aber eigentlich nur durch Oberflächenmerkmale von ihnen.
     Ich verhehle nicht, dass ich erst jetzt so richtig die heimatfreundliche Deutschtümelei auf allen Medienkanälen wahrnehme. Seit Wiederherstellung der deutschen Einheit überbieten sie sich an Volkstümlichem, das freilich seinen Stellenwert besitzt, aber nun geradezu mit System ins Schnulzenhafte abfährt. Deutschland ist so! Ich persönlich mag diese Seite deutscher Lebensart nicht, registriere aber auch in anderen Ländern den Rückfall in einen banalen Fundamentalismus heimatlicher Klangschwülste.
     "In Europa mit Licht" – solchermaßen möchte ich die Rüganer Verkehrsinitiative umwandeln; allein Licht beseitigt keine Kurzsichtigkeit.


© Raymond Walden