August
1998
Nur
wenige Menschen kommen je auf den Vilm, jene kleine Insel von nicht
einmal 100 ha, die südöstlich von Rügen im touristischen Schatten
weilt und mehr vom Leben offenbaren kann als die neu erwachenden
Rüganer Strandpromenaden. Denn auf Vilm hat das Leben wieder zu sich
selbst gefunden.
Verschiedene Umstände bescherten über
einige Jahrhunderte hinweg der Insel eine relative Freiheit vom
Menschen und gewährten damit der Pflanzen- und Tierwelt sowie der
Küsten formenden Kraft des Meeres jene Selbstentfaltung, die Zeugnis
ablegt für die Vergänglichkeit und die bescheidene Bedeutung des
Individuums im Zeitmaß der Evolution.
Maximal 30 Besucher täglich, heißt
es, seien erlaubt, im Jahresschnitt sind es eher weniger. Wenngleich
die Natur das eigentliche Inselerlebnis birgt, gibt es da einen
philosophischen Ansatz.
1959 wurde der Vilm für Besucher gänzlich gesperrt, und man baute
eine Ferienhaussiedlung für hohe Staatsfunktionäre. Offensichtlich
wollten die Kommunisten sich hier ein kleines Paradies bauen, leicht
abschirmbar durch die seichten Boddengewässer, gut zu versorgen vom
Rügener Hafen Lauterbach aus, doch irgendwie verraten die Anordnung
und die geradezu sparsame Architektur der Häuser, dass die Erbauer
von einem luxuriösen Lebensstil westlicher Prägung keine Ahnung
hatten. Oder fühlten sie sich hier zu eng an ihrem eigentlichen
Leben? Mag das auch der Grund dafür sein, dass die Anlage überhaupt
wenig genutzt wurde? Seit 1990 dienen die einfachen Häuser der
Internationalen Naturschutzakademie Insel Vilm als Forschungs- und
Tagungsstätten.
Lässt
man die paar Häuser hinter sich, gelangt man in Wälder mit bis zu
300 Jahre alten Buchen, bizarr geformte alte Eichen haben so manches
Wetter überdauert. Seit über 400 Jahren ist kein Baum mehr
geschlagen worden. Der Urwald zeigt sich in allen Phasen seiner
Entwicklung: als Blüte, Sämling, Trieb, als stattlicher Baum in
kraftvoller Ganzheit und als modernder Tod, voller Schönheit,
Ehrfurcht gebietend und zugleich etwas Schauder hervorrufend. Die
Mücken scheinen nur die Einheimischen zu schonen. Auf kürzester
Strecke wechseln die Küstenformationen, erzählen von der fernen
Eiszeit und nahezu täglichen Abrissen, Anlandungen.
Wer bist du, Wanderer, der nach
wenigen Bootsminuten hier landet?
Hast du Augen, Ohren und Verstand, um
zu erkennen, was Lebenszeit, was
Evolution heißt? Denn Du bist ihr
Kind!
©
Raymond Walden