Dienstag, 17. Dezember 2019

Menschliches Glauben: Ungarn vor 40 Jahren (S. 14)


November 1996

1956 lebte ich als Elfjähriger in Lindow (Mark), dem kleinen Nest im märkischen Sand, knapp 70 km nördlich von Berlin. Die Kindertage in der Seen- und Waldlandschaft hatten etwas Abenteuerliches, schön wie beängstigend, denn überall in den Kiefern- und Birkenidyllen gab es noch Spuren des Krieges. Hier das heimlich geschmückte Grab eines gefallenen Soldaten, dort im Sägewerk ein plötzliches Krachen der Sägeblätter, wenn sie wieder einmal auf ein im Baumstamm verborgenes Geschoss trafen; und allgegenwärtig die „siegreiche Rote Armee“. Ihre Panzer rollten vorzugsweise nachts die Rheinsberger Straße entlang, endlos, bis die so entstandenen Furchen die Anwohner über Jahre hinweg von der „Reichslochstraße“ sprechen ließen. Die Luft dröhnte und die Mauern zitterten stundenlang unter dem Gewicht der Stahlkolosse, die wir eigentlich fürchteten. Fuhren sie aber tagsüber, winkten wir den zumeist schwarz bekappten Panzerführern zu. Eine auch für Kinder groteske Gefühlslage, besonders wenn abends im RIAS Berlin, den die Eltern verbotenerweise abhörten, die Russen wie alle Kommunisten als die personifizierten Teufel dargestellt wurden.
    Gegen diese Satane erhob sich in Ungarn ein aufbegehrendes Volk, dem im Freundeskreis meiner Eltern alle Sympathien galten. Begierig wurden die neuesten Meldungen am störanfälligen Radio verfolgt, und auch wir Kinder hätten den „schwarzen Mongolen“, die wir quasi aus nächster Nähe kannten, eine Niederlage gegönnt. Doch was anfangs auf einen Sieg hoffen ließ, das Herausschneiden der roten Sterne aus den ungarischen Flaggen, wurde, wie allgemein bekannt ist, durch eben die uns vertrauten russischen Panzer plattgewalzt.
    In dieser Zeit weinte ich und hatte Angstträume, die sich oft mit skurrilen Gefährdungen meiner Eltern und Freunde durch die Russen beschäftigten. Ich hörte damals die Reportagen der Westsender und den übersetzten Appell des untergehenden ungarischen Freiheitssenders: „Völker der Welten! Auf den Wachttürmen des tausendjährigen Ungarn beginnen die letzten Flammen zu erlöschen. Die Sowjetarmee will uns zerschlagen. Ihre Tanks und ihre Geschütze rollen über Ungarn hinweg. ... Rettet unsere Seelen! SOS-SOS! ...“* – Und es geschah nichts von freiheitlicher Seite aus, die Barbaren zu stoppen.
    Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Erlebnis, per Funk aus Berlin in die hinterste Provinz übermittelt, mich geprägt hat: Freiheit hatte Gestalt gewonnen!
    Dass im heutigen Ungarn der 40. Jahrestag des Volksaufstands die Gesellschaft spaltet und bei jungen Menschen auf geringes Interesse stößt, hat viele Gründe; zwei davon sind:
  1. Es war ein Tag der Niederlage.
  1. Die damaligen westlichen Sachwalter der Freiheit hatten die Freiheit verraten. Und dieselben opportunen Freiheitsbürokraten verwalten nun die Interessen der Überreste des zusammengebrochenen kommunistischen Imperiums, „verwalten“ ihren ungeschminkten Kapitalinteressen entsprechend.
Wer mag da schon feiern?

* Janko Musulin, Hrsg., Proklamationen der Freiheit, Fischer Bücherei, 1965


© Raymond Walden 


 

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