Freitag, 27. Dezember 2019

Menschliches Glauben: „Selbstdarsteller“ unwählbar (S. 24)


März 1998

Eine demokratische Wahl zu boykottieren, hat wenig Sinn, denn verweigerten sich alle, wäre dies das Ende der Demokratie. (Wir sind uns einig, dass Demokratie noch sehr entwicklungsbedürftig ist, um den Namen in voller Bedeutung zu führen.) Nach amerikanischem Vorbild laufen bereits jetzt die Medienkampagnen zur bevorstehenden deutschen Bundestagswahl an. Inhalte interessieren die Masse kaum, vielmehr, wie ein Kandidat „ankommt“, ob er „sexy“ ist – schlicht, ob er Medienwirksamkeit verkörpert. Wie in den billigen Fernsehshows kanalauf und -ab basiert das „Publikumsvotum“ weniger auf Bandbreite und Kompetenz, als vielmehr auf Stimmungsmache, auf der Präsentation und Akzeptanz von oberflächlichem Gehabe und Geschwätz: Das ist der eigentliche Zustand unserer zu einem beträchtlichen Teil verblödeten Gesellschaft. Jeder nicht konforme Skeptiker ist freilich in der Lage, daraus seine eigenen Schlüsse zu ziehen; mich reizt es dennoch, meine Auffassung zur Diskussion zu stellen.
     Kohl kann ich nicht wählen, weil der bei jeder Kandidatur das Volk belogen hat und dabei seine Politik auf christliche Traditionen stützt, die im globalen Maßstab lediglich regionale Einfalt repräsentieren.
     Schröder will ich nicht wählen, weil er sich von Kohl nur dadurch unterscheidet, dass er den häufigen Wechsel seiner Damenbekanntschaften öffentlich vermarktet, während Kohl mit seiner Angetrauten ein Kochbuch veröffentlicht. Lassen wir uns nicht täuschen – zum Beispiel in der Medienpolitik, im Schulwesen, in der Ausländerpolitik gibt es zwischen den beiden stärksten Parteien nur den Einheitskitt der Unfähigkeit, darüber hinaus das Buhlen um das Wohlwollen der Kirchen.
     Die FDP als stets überbewertetes Anhängsel, das zum eigenen Machterhalt so ziemlich jeden Unfug mitgestaltete, ist nicht meine Welt. Und schließlich können sich die Grünen, erst „Fundis“, dann „Realos“, also Weltfremde, dann Opportunisten, nur aufgrund der Dummheit der zuvor genannten Kartelle behaupten. Einer Erwähnung des schillernden Restes der deutschen Wahlbewerber bedarf es wohl kaum.
     Was ist zu tun? Soll ich Leute und Parteien wählen, die mir zuwider sind, quasi als „kleineres Übel“? Bisher war das meine Praxis. Diesmal folge ich dem Rat eines Freundes: „Selbstdarsteller wähle ich nicht.“ Das schreibe ich weniger drastisch auf den Wahlzettel, sollte eine Wählmaschine im Lokal stehen, wähle ich ungültig. „Die Freiheit nehme ich mir“, denn ich bin sicher, nichts mit der Stimmabgabe bewirken zu können. Mein Betätigungsfeld beschränkt sich auf das alltägliche Leben: Demokratie muss gelebt werden, standhaft, mit offenen Augen und Ohren, einem entschlossenen Mund und einer dynamischen PC-Tastatur.
     Mehr als alles andere aber schätze ich die Kommunikation mit unabhängig denkenden und zuverlässigen Menschen. Ich habe das Glück, einige von ihnen, mit ganz unterschiedlichen Charakteren, als Freunde erleben zu dürfen. 


 
© Raymond Walden



Keine Kommentare: