Montag, 23. Dezember 2019

Menschliches Glauben: „Gott hört uns.“ (S. 23)


November 1997

Gott ist groß“, „Junge Gottsucher“ – Schlagworte, die mir vor einigen Jahren in Würzburg auf Straßenplakaten begegneten, vergleichbar mit politischen Wahlkampagnen. Mir ist wieder einmal klar geworden, dass Würzburg und Umgebung ohne Gott so gar nicht existierten.
     Unser ganzes „christliches Abendland“ wurzelt in „Gott“. Manchmal scheint dem Glaubensfreien solche Wahrheit im täglichen Einerlei zu entgleiten, das ändert freilich nichts daran: Dieses Land gehört Gott, seinen Himmelswesen und vor allem den irdischen Verwaltern der geistlichen Abgehobenheit mindestens so intensiv wie im Mittelalter.
     Bei herbstlichem Sonnenschein wandere ich von der Festung hinab durch die Weinberge ins Tal, um jenseits der Leistenstraße aufzusteigen zum Käpelle, einer Wallfahrtskirche, die nächst einem kleinen Kloster liegt. Die Stufen hinauf sind als Kreuzweg gestaltet, lebensgroße Figuren stellen die bekannten christlichen Leidensstationen dar, überwölbt von mächtigen alten Laubbäumen. Hier muss jedem gläubigen Menschen Gott „greifbar“ werden, und so finden sie sich auch ein, die Meditierenden, die Stufe für Stufe im Gebet innehalten (welch ein langer Weg bis hinauf!). Ich hingegen gehe als „Wanderer“ – und komme oben an, just um zwölf Uhr. Die zahlreichen Würzburger Kirchenglocken stimmen ihr Mittagsgeläut an; die Glocke des Käpelle erhebt sich darüber; ich trete ein in das barocke Gotteshaus, stehe wieder einmal voller Bewunderung vor menschlichem Kunstschaffen.
     Zufällig probt eine Sängerin mit Orgelbegleitung das „Ave Maria“, viel zu zaghaft und mindestens eine halbe Tonlage zu tief. Das kommt mir entgegen, ich summe laut mit, bin einfach „gut drauf“. Diese religiöse Stätte mit all den künstlerischen Nachempfindungen von Prunk einerseits und Leid andererseits vergegenwärtigt mir meine völlige Unabhängigkeit von kitschig sentimentalem, bedeutungsschwerem Erlösungsglauben. Ich atme tief durch, frei, nicht überheblich, mir ganz im Gegenteil sehr bewusst, dass auch meine Leidensfähigkeit im physischen wie im psychischen Sinne wachsenden Anforderungen unterliegt. Nein, solange meine Gedanken klar sind, wird mir niemand Angst vor Göttern suggerieren, wird kein Gott mich hören, weder Lob noch Klage.
     „Wie kann Gott so gemein sein?“, fragte mich eine junge Mutter, die gerade dabei war, die Beerdigung ihres Vaters zu organisieren, als sie die Nachricht vom Tode ihres Schwagers erhielt, sodass in weiterer Folge auch noch der Kliniktermin ihres schwer kranken kleinen Sohnes verschoben werden musste.
     Religion offenbart sich als Leidverstärkerin, doch das dürfen Gläubige nicht einmal erahnen, träfe sie doch der Zorn des so getadelten Gottes.


© Raymond Walden



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