November
1997
„Gott
ist groß“, „Junge Gottsucher“ – Schlagworte, die mir vor
einigen Jahren in Würzburg auf Straßenplakaten begegneten,
vergleichbar mit politischen Wahlkampagnen. Mir ist wieder einmal
klar geworden, dass Würzburg und Umgebung ohne Gott so gar nicht
existierten.
Unser
ganzes „christliches Abendland“ wurzelt in „Gott“. Manchmal
scheint dem Glaubensfreien solche Wahrheit im täglichen Einerlei zu
entgleiten, das ändert freilich nichts daran: Dieses Land gehört
Gott, seinen Himmelswesen und vor allem den irdischen Verwaltern der
geistlichen Abgehobenheit mindestens so intensiv wie im Mittelalter.
Bei
herbstlichem Sonnenschein wandere ich von der Festung hinab durch die
Weinberge ins Tal, um jenseits der Leistenstraße aufzusteigen zum
Käpelle, einer Wallfahrtskirche, die nächst einem kleinen Kloster
liegt. Die Stufen hinauf sind als Kreuzweg gestaltet, lebensgroße
Figuren stellen die bekannten christlichen Leidensstationen dar,
überwölbt von mächtigen alten Laubbäumen. Hier muss jedem
gläubigen Menschen Gott „greifbar“ werden, und so finden sie
sich auch ein, die Meditierenden, die Stufe für Stufe im Gebet
innehalten (welch ein langer Weg bis hinauf!). Ich hingegen gehe als
„Wanderer“ – und komme oben an, just um zwölf Uhr. Die
zahlreichen Würzburger Kirchenglocken stimmen ihr Mittagsgeläut an;
die Glocke des Käpelle erhebt sich darüber; ich trete ein in das
barocke Gotteshaus, stehe wieder einmal voller Bewunderung vor
menschlichem Kunstschaffen.
Zufällig
probt eine Sängerin mit Orgelbegleitung das „Ave Maria“, viel
zu zaghaft und mindestens eine halbe Tonlage zu tief. Das kommt mir
entgegen, ich summe laut mit, bin einfach „gut drauf“. Diese
religiöse Stätte mit all den künstlerischen Nachempfindungen von
Prunk einerseits und Leid andererseits vergegenwärtigt mir meine
völlige Unabhängigkeit von kitschig sentimentalem,
bedeutungsschwerem Erlösungsglauben. Ich atme tief durch, frei,
nicht überheblich, mir ganz im Gegenteil sehr bewusst, dass auch
meine Leidensfähigkeit im physischen wie im psychischen Sinne
wachsenden Anforderungen unterliegt. Nein, solange meine Gedanken
klar sind, wird mir niemand Angst vor Göttern suggerieren, wird kein
Gott mich hören, weder Lob noch Klage.
„Wie
kann Gott so gemein sein?“, fragte mich eine junge Mutter, die
gerade dabei war, die Beerdigung ihres Vaters zu organisieren, als
sie die Nachricht vom Tode ihres Schwagers erhielt, sodass in
weiterer Folge auch noch der Kliniktermin ihres schwer kranken
kleinen Sohnes verschoben werden musste.
Religion
offenbart sich als Leidverstärkerin, doch das dürfen Gläubige
nicht einmal erahnen, träfe sie doch der Zorn des so getadelten
Gottes.
©
Raymond Walden