November
1996
1956
lebte ich als Elfjähriger in Lindow (Mark), dem kleinen Nest im
märkischen Sand, knapp 70 km nördlich von Berlin. Die Kindertage in
der Seen- und Waldlandschaft hatten etwas Abenteuerliches, schön wie
beängstigend, denn überall in den Kiefern- und Birkenidyllen gab es
noch Spuren des Krieges. Hier das heimlich geschmückte Grab eines
gefallenen Soldaten, dort im Sägewerk ein plötzliches Krachen der
Sägeblätter, wenn sie wieder einmal auf ein im Baumstamm
verborgenes Geschoss trafen; und allgegenwärtig die „siegreiche
Rote Armee“. Ihre Panzer rollten vorzugsweise nachts die
Rheinsberger Straße entlang, endlos, bis die so entstandenen Furchen
die Anwohner über Jahre hinweg von der „Reichslochstraße“
sprechen ließen. Die Luft dröhnte und die Mauern zitterten
stundenlang unter dem Gewicht der Stahlkolosse, die wir eigentlich
fürchteten. Fuhren sie aber tagsüber, winkten wir den zumeist
schwarz bekappten Panzerführern zu. Eine auch für Kinder groteske
Gefühlslage, besonders wenn abends im RIAS Berlin, den die Eltern
verbotenerweise abhörten, die Russen wie alle Kommunisten als die
personifizierten Teufel dargestellt wurden.
Gegen
diese Satane erhob sich in Ungarn ein aufbegehrendes Volk, dem im
Freundeskreis meiner Eltern alle Sympathien galten. Begierig wurden
die neuesten Meldungen am störanfälligen Radio verfolgt, und auch
wir Kinder hätten den „schwarzen Mongolen“, die wir quasi aus
nächster Nähe kannten, eine Niederlage gegönnt. Doch was anfangs
auf einen Sieg hoffen ließ, das Herausschneiden der roten Sterne aus
den ungarischen Flaggen, wurde, wie allgemein bekannt ist, durch eben
die uns vertrauten russischen Panzer plattgewalzt.
In
dieser Zeit weinte ich und hatte Angstträume, die sich oft mit
skurrilen Gefährdungen meiner Eltern und Freunde durch die Russen
beschäftigten. Ich hörte damals die Reportagen der Westsender und
den übersetzten Appell des untergehenden ungarischen
Freiheitssenders: „Völker der Welten! Auf den Wachttürmen des
tausendjährigen Ungarn beginnen die letzten Flammen zu erlöschen.
Die Sowjetarmee will uns zerschlagen. Ihre Tanks und ihre Geschütze
rollen über Ungarn hinweg. ... Rettet unsere Seelen! SOS-SOS! ...“*
– Und es geschah nichts von freiheitlicher Seite aus, die Barbaren
zu stoppen.
Ich
bin mir ziemlich sicher, dass dieses Erlebnis, per Funk aus Berlin in
die hinterste Provinz übermittelt, mich geprägt hat: Freiheit hatte
Gestalt gewonnen!
Dass
im heutigen Ungarn der 40. Jahrestag des Volksaufstands die
Gesellschaft spaltet und bei jungen Menschen auf geringes Interesse
stößt, hat viele Gründe; zwei davon sind:
- Es war ein Tag der Niederlage.
- Die damaligen westlichen Sachwalter der Freiheit hatten die Freiheit verraten. Und dieselben opportunen Freiheitsbürokraten verwalten nun die Interessen der Überreste des zusammengebrochenen kommunistischen Imperiums, „verwalten“ ihren ungeschminkten Kapitalinteressen entsprechend.
Wer
mag da schon feiern?
*
Janko
Musulin, Hrsg., Proklamationen der Freiheit, Fischer Bücherei, 1965
©
Raymond Walden