Mai
1998
Gedanken wurzeln in
Traditionen und Herkunft, sie fliegen in Hektik und Raffgier, sie
schweben in Träumen und Visionen, aber sie befreien sich, so ein
Reisender denkt, ein Denkender reist. Dies meint nicht das bekannte
Sprichwort „Reisen bildet“, sondern das Umschalten aus
provinziellen oder urbanen Zwängen auf Eventualitäten, die in der
modernen Zeit bis zu einem gewissen Grad kalkulierbar sind, aber
letztlich immer eine Herausforderung in sich bergen. Freilich ist
durch die Berechenbarkeit das Reisen für den Menschen von heute
gegenüber früheren Generationen zur hellen Freude geworden. –
Daher ja auch der Massentourismus, der dann aber wegen seiner
Stupidität sofort in Nervenbelastung umschlägt.
„Wie man sich
bettet, so schläft man“ besitzt eine übertragbare Wahrheit: „Wie
man seine Erwartungen begründet und die Wege plant, so ist die
Lebensqualität während und nach der Reise“. Das bezieht sich
zunächst vordergründig auf die Reiseroute, gilt aber viel
gravierender für das gesamte Umfeld. Ich habe bisher das Glück
gehabt, häufig und auch weit zu reisen; „Erhebet die Herzen“,
heißt es an einer Stelle der katholischen Messfeier, an die ich mich
erinnere, weil ich als Kind in die katholische Gemeinschaft
eingebettet war. Heute weiß ich, dass dieser liturgische
Schnickschnack nichts bedeutet gegenüber dem wirklichen Erleben
dieser Erde, mit ihren Klima- und Kulturzonen, und nichts ist
erbaulicher, als mit Überblick und Verständnis die jeweiligen
lokalen Vorgänge annähernd, auch historisch, zu begreifen, ohne in
diese wie auch immer verwickelt zu sein. Gedankenfreiheit kann erst
zu einer solchen werden, hat sie das Wesen möglichst vieler
Regionen „erfahren“. Literatur und andere geistige Quellen können
in seltensten Fällen in Konkurrenz mit der konkreten Reise treten,
wohl aber profitiert die Reise von zuvor angelesenem Wissen.
All jenen stetig
Nörgelnden, die da meinen, zu reisen sei ein Faktor der
Umweltzerstörung, könnte man vielleicht entgegnen, dass bestimmte
touristische Wachstumsbranchen neben der Landschaft auch den Geist
(so überhaupt noch vorhanden) schädigen, doch würde dies zu einer
Diskussion über die Mündigkeit der dumpfen Masse führen, die nicht
reist, die verfrachtet wird, weil sie es in ihrem Unvermögen gar
nicht anders erwartet. Echtes Reisen meint ja auch innehalten,
verweilen, wird dadurch alles andere als mondän, gar überheblich.
Wie auch immer – zu reisen meint weitverzweigte Verwurzelung des
Ichs, schöner noch des Wirs, meint das extensive Erleben des Hier
und Jetzt, eingewoben in die eigene Geschichtlichkeit, aufgebrochen,
um der Zukunft etwas gewachsen zu sein, denn sie ist zwar begrenzt,
ungewiss, hält letztlich aber für jeden den Tod bereit – am Ende
aller Reisen.
©
Raymond Walden