Man
mag darüber streiten, ob ein Gefäß halb voll oder halb leer ist,
unbestreitbar wird bei dieser Sachlage der zur Verfügung stehende
Hohlraum zur Hälfte ausgenutzt. Die Begriffe „voll“ und „leer“
in Bezug auf die Hälfte signalisieren eine Interpretation des
Beobachters, der damit seinen eigenen Ausgangspunkt der Betrachtung
in die Diskussion einbringt. An der Tatsache der nur halben Befüllung
wird dadurch nichts geändert. Eventuell ist aber das Faktum der
Hälfte an sich bei der Zustandsbeschreibung gar nicht so
entscheidend wie vielleicht der Anstieg auf die Hälfte oder das
Absinken bis dahin. Von der eigentlichen Wahrheit wird so gewollt
abgelenkt, geradezu klassische Beispiele für derartiges Vorgehen
liefern die Interpretationen politischer Wahlergebnisse durch die
Kandidaten, die sich nicht selten alle als Sieger empfinden; auch die
Verlierer suchen sich je nach Bedarf einen ihnen genehmen
Ausgangspunkt für ihre Beurteilung, um die Wahrheit, das muss
unterstrichen werden, subjektiv schönzufärben. Dass sich dieses
Faktenverdrehen immer wieder ungestraft wiederholen kann, ist ein
deutliches Anzeichen für die Unempfindlichkeit der Beteiligten,
nämlich der Manipulatoren, der Medien als Überbringer und des
Publikums.
Nun
ist in Politikerkreisen dieses Verhalten gang und gäbe besonders bei
Wahlversprechen, Absichtserklärungen und den folgenden
Unterlassungen wie Meinungsänderungen. „Was kümmert mich mein
Geschwätz von gestern“, kennzeichnet die überlieferte
Wahrheitsliebe eines immerhin christlich-demokratischen deutschen
Bundeskanzlers, der damit wenigstens ehrlich das
Politikerselbstverständnis, übrigens aller Parteien,
charakterisierte. Der Sarkasmus bleibt weitgehend ohne Folgen, weil
die breite Masse gar nicht merkt, dass vor allem sie selbst damit
verhöhnt wird. Wie wäre es denn, wenn man den so schwatzenden
Politikern entgegenhielte: „Kümmert euch nicht euer gestriges
Reden, warum sollte uns jetzt euer heutiges kümmern?“ Dass eine
solche Überlegung vielleicht gar nicht so irreal ist, zeigt sich
mehr und mehr in geringen Wahlbeteiligungen, sind sie doch keineswegs
nur der Ausdruck von Wählerbequemlichkeit und Desinteresse, sondern
auch von Ablehnung.
Was
ist schon Wahrheit im Alltäglichen, wenn die Herrschenden sich
gefallen, es mit ihr nicht so genau zu nehmen? Der Bürger empfindet
dem Staat gegenüber allerdings eine ebenso lasche Wahrheitstreue und
so blühen beispielsweise Schwarzarbeit und Steuerflucht, die ja
ohnehin nur anrüchig werden, wenn der eine oder andere tatsächlich
in juristischer Hinsicht auffällt.
Wahrheitsverachtung üben die Staaten
durch die Unterhaltung von Geheim- und Spitzeldiensten, deren
Machenschaften hier nicht näher zu durchleuchten sind. Und die
sogenannte Diplomatie, wenn auch zumeist in elegantem Gewande oder
diskret, profiliert sich als Schacher- und Übervorteilungskunst. Die
Zahl der wirklich wachen Bürger nimmt prozentual ab, deshalb wird
sich in absehbarer Zeit kaum etwas grundlegend ändern lassen.
Wird
die Demokratie einerseits als die bestmögliche Staatsform gefeiert,
so verfälscht sie sich andererseits durch forcierten Kapitalismus;
es gibt keine wahre Demokratie, es hat sie bisher nie gegeben.
Dennoch sollte das Ideal davon erhalten bleiben, um dem Menschen
seine Würde wenigstens für einen späteren Zeitpunkt in Aussicht zu
stellen, denn gegenwärtig bemüht er sich mehrheitlich erfolglos,
und zwar aufgrund geistiger Blockaden, die er aus sich heraus noch
nicht erkennt.
Es
scheint so, dass die politischen Unwahrheiten lediglich die
Fortsetzung der verschiedensten Wahrheitsvernebelungen, ja
Wahrheitsmeidungen im alltäglichen Umgang miteinander darstellen.
Vergegenwärtigt man sich, bei wie vielen Gelegenheiten man nicht
nach Wahrheit verlangt, es darüber hinaus sogar vorteilhaft ist zu
schweigen oder zu lügen, so drängt sich die Frage auf: Ist im Leben
der Umgang mit unverfälschter Wahrheit überhaupt möglich oder
verharrt der Entwicklungsstand des Menschen vielmehr auf der Ebene
des Verdrängens und Wünschens?
Ganz
offensichtlich besteht ein Missverhältnis zum eigenen Tod, der vom
Massenmenschen fast gar nicht ins Sein einbezogen wird. In der Praxis
regt man sich kaum über den Tod anderer Menschen auf, nimmt ihn
sogar mit Sensationslust zur Kenntnis, verschließt aber die Augen
vor dem, was das eigene Schicksal bringen könnte, oder öffnet sich
realitätsferner Religion und Esoterik. Mit deren Hilfe werden Tabus
konstruiert, die nicht nur das Privatleben, sondern ebenso die
Staatsphilosophien prägen. Die Einhaltung der Tabus wird im
Besonderen mit dem Hinweis auf strafende Götter und Unsterblichkeit
oder Reinkarnationen und Karma durchgesetzt. Weil solche Tabus
unvernünftig, das heißt gegen den klaren Verstand und auch gegen
natürliche Gesetzmäßigkeiten, gepredigt werden, sind Tabubrüche
vorprogrammiert, Regelverstöße, die mit Unwahrheiten gedeckt und
bemäntelt werden. Offen angelegte Wahrheit wäre, so ernüchternd
das klingen mag, der Tod jedes Wunderglaubens, der ja zumeist von
sich behauptet, wahr zu sein.
Sofern
moralisch vertretbar, wären kleine Notlügen hinnehmbar, wenn sie
beispielsweise der Schonung des Gegenübers dienen sollen, um
vielleicht im Krankheitsfalle die Hoffnungen auf Heilung zu
unterstützen. Was bei leichteren Leiden mit absehbarem Verlauf
sicherlich ermunternd für den Patienten sein kann, bedeutet bei
hoffnungsloser Erkrankung allerdings nur ein Hinauszögern, ein
Augenverschließen vor dem nahenden Ende, das dann um so
katastrophaler empfunden wird.
Der
Alltag ist mit Lügen gespickt, sodass der geschickteste
Wahrheitsverdreher die besten Erfolgsaussichten besitzt. Nehmen wir
die Zeitungen her, die mehrheitlich schon auf der Titelseite eine
Unwahrheit präsentieren, indem sie sich als „bürgerlich,
parteiunabhängig“ bezeichnen, obgleich sie einer straffen
politischen Ausrichtung unterliegen. Man weiß es im Allgemeinen und
lebt damit ebenso wie mit der Dauerberieselung durch Werbung, die
sämtliche Register der Schönfärberei zieht und Negatives, man ist
versucht zu sagen „naturgemäß“ ausspart oder abstreitet. So
macht man sich die Erde heutzutage untertan.
Nun
wäre es leichter gegen Verlogenheiten anzugehen, könnte man in
jedem Fall so ganz zweifelsfrei definieren, was Wahrheit ist. Sie
öffnet sich leider nicht nur als objektivierbares Faktum, sondern
unterliegt gerade auch dem jeweiligen subjektiven
Wahrnehmungsvermögen. Abhängig von der Tages- und Jahreszeit, vom
eigenen Alter, von der Persönlichkeitsentwicklung, von Stimmungen
und so weiter, erkennen wir Sachverhalte als wahr an, die gleichwohl
auch Täuschungen sein können. So entstehen Unwahrheiten, die nicht
aus Boshaftigkeit und Willkür resultieren, sondern in aufrichtiger
Absicht als Wahrheit beeidet werden. Da stoßen wir auf das
philosophische Einkalkulieren der Begrenztheit menschlicher
Wahrnehmungen und befinden uns in der vergleichbaren Situation mit so
vielen Zeitgenossen, die bei astronomischen Himmelsbeobachtungen
spontan nach den Grenzen des Alls fragen, ohne zuvor überhaupt
verstanden zu haben, wie unsere engere kosmische Heimat, das
Planetensystem, aufgebaut ist. Das bedeutet, das praktische tägliche
Miteinander besteht aus unkomplizierteren Wahrheiten, um die man sich
aber selbst bemühen muss, deren Handhabung zu üben ist. Man kann
jedoch davon ausgehen, dass die Masse übungsunwillig ist und von
einflussreichen Nutznießern auch übungsunfähig gehalten wird.
Sich
wenig um Wahrheit zu kümmern, gleichgültig oder mit faulen
Kompromissen zu leben, das sind die Merkmale einer Erdbevölkerung,
die sich in großen Teilen ganz zu Unrecht als Krone der Schöpfung
beweihräuchert. Dem Drang nach Fortpflanzung folgend werden
unausgesetzt „hausgemachte“ Probleme erzeugt, sodass Menschen
unter viel widrigeren Umständen leben müssen als Tiere in der
freien Natur, die es nicht fertigbringen, aus rein ideologischen
Gründen Artgenossen zu töten, Kriege zu führen, Lebewesen zu
unterdrücken, auszubeuten, psychisch und physisch zu foltern oder
dies „diplomatisch“ zu dulden.
Als
interessiert hinterfragender und selbstkritischer Bürger solche
Lebensart zu verneinen, ein würdigeres Leben zu führen, erfordert
den enormen Kraftakt der Abgrenzung, die nicht zu Ausgrenzung und
Menschenverachtung führen darf. Solche Bemühungen können das
Individuum überfordern, sie können aber unter zivilisierten
Voraussetzungen ebenso Quelle für Lebensmut und –qualität sein.
©
Raymond Walden