Über Wissenschaft
1999
Religionen
streiten erbittert untereinander und es gibt genügend Dogmatiker,
die ähnliche Konflikte sogar in die Wissenschaft hineintragen und
damit beiläufig die Richtigkeit der Evolutionstheorie beweisen,
welche die Herkunft des Menschen aus primitiven Lebensformen
ableitet. Alle Zeichen sprechen dafür, dass die Entwicklung zum
Menschen hin noch sehr im Anfangsstadium verweilt, denn was in der
Tierwelt äußerst selten und auch nur bedingt vorkommt, offenbart
sich beim Menschen in vielen Kulturen: Er ist sich selbst der ärgste
Zerstörer, er untermauert fortwährend seine innerliche Entfernung
zur viel beschworenen Menschenwürde, denn gesunde Instinkte und
Triebe bekämpft er mit bisweilen geistlosen
Bewusstseinsverrenkungen.
Streit bedeutet nicht von
vornherein Zerstörung, sondern erscheint auf bestimmten Ebenen
sinnvoll; erinnert sei an das rivalisierende Brunftverhalten in der
Tierwelt, wodurch sich nur die stärkeren, gesunden Individuen für
die Fortpflanzung qualifizieren. Auch innerhalb der Wissenschaft
erweist sich eine interne Streitkultur als im wahren Sinne fruchtbar.
Rivalitäten erhöhen die Forschungsanstrengungen und führen auch zu
konsequenten Korrekturen, so sich eine These objektiv als fehlerhaft
erwiesen hat.
Wissenschaftlicher Zwist
und Religionskonflikte sind grundsätzlich von verschiedenem
Charakter, geht es doch im Bereich der Forschung um objektivierbare
Weiterentwicklung, im Umfeld der Religionen hingegen um die
dogmatische Verteidigung oder Durchsetzung glaubensbedingter
Behauptungen über Nichtexistierendes oder Nichtbewiesenes.
Immerhin
konstatierte die katholische Kirche anlässlich der zögerlichen
Rehabilitierung Galileis, dass es eine objektive wissenschaftliche
Wahrheit gäbe – freilich neben einer sogenannten
Offenbarungswahrheit. Zwei Wahrheiten also! In der praktischen
Auswirkung bedeutet dies Bewusstseinsspaltung, eine ausgekochte
Methode des Prinzips „Teile und herrsche!“ Die „Teilung“ in
Form von Verunsicherung findet vornehmlich in den Köpfen der
unzähligen Gläubigen statt, während bei den Herrschenden so die
Teilhabe an der Macht der Religion gefestigt wird.
Die
Wissenschaft verharrt traditionell in ähnlichen Abhängigkeiten,
sodass einzelne herausragende Wissenschaftler aus einer distanzierten
Weltsicht heraus ebenso wie aus Opportunität bestimmte
Weltanschauungen öffentlich unterstützen. Da konkurrieren zum
Beispiel seit Jahren verschiedene Theorien über die Entstehung des
Universums, besonders favorisiert: die oft erwähnte
Urknalltheorie. Sie passt so gut in den biblischen Schöpfungsbericht,
„Gott schuf“ nicht evolutionär, sondern quasi im „Hauruck“.
Letztere Anspielung weisen die Big-Bang-Apostel geradezu beleidigt
von sich, doch als der Cobe-Satellit eine in die Theorie passende
Strahlung im Weltall bestätigte, jubelte man in
Wissenschaftskreisen, die „Handschrift Gottes“ entdeckt zu haben.
(„Newsweek
International“, 4.5.1992)
Damit wäre dann – ganz nebenbei – die Richtigkeit des biblischen
Berichtes bewiesen, alle davon abweichenden Darstellungen seien eben
falsch!
Wissenschaftler sind
keine besseren Menschen. Vielleicht sind einige aus ihren Reihen
gleichwohl friedfertiger als andere Mitglieder der Gesellschaft?
Ähnlich wie der
Astrologie und Astronomie, die einst identisch waren, ergeht es der
christlichen Religion und der Wissenschaft; Bildungsgut
(Wissenschaft) wurde hauptsächlich über Klöster und den Klerus
gepflegt und vermittelt. Geistlich abweichende Lehrer standen zumeist
unter religiöser Überwachung und wurden notfalls gemaßregelt oder
gar vernichtet (G. Bruno, G. Galilei und andere). Es bleibt aber das
Verdienst der Religionen, Wissenschaft unter verschiedenen Vorzeichen
und Methoden überhaupt erst ermöglicht, Kultur hervorgebracht zu
haben. – Das allerdings ist Historie.
In
der gegenwärtig eskalierenden Notlage der Zivilisation bedrohen
Religionen, indem sie die Wissenschaft missbrauchen oder ihr
feindlich gegenüberstehen sowie durch die Propagierung der
fundamentalistischen, wörtlichen Auffassung von Schriften (Bibel,
Koran, …), den Fortbestand der Menschheit unmittelbar. In einer mit
Unmengen von Sekten, Kirchen und Propheten durchsetzten
amerikanischen Gesellschaft stehen neben dem Präsidenten der
„Weltmacht Nr. 1“ auch das Bildungssystem, die Massenmedien und
die Wissenschaft, die vor allem den kapitalistischen
Rentabilitätsforderungen und militärischen „Bedürfnissen“ zu
genügen haben, in direkter Abhängigkeit zu religiösen
Machtgruppen. Weltweit breitet sich wissenschaftliche Unfähigkeit
aus, indem das US-Muster mehr oder weniger kritiklos kopiert wird.
Keineswegs überrascht es da, wenn man von menschenverachtenden, über
die Köpfe der Opfer hinweg getätigten amerikanischen Experimenten
mit Radioaktivität erfährt. Diese Wissenschaftsauffassung steckt in
Monsterschädeln, die jenen der Nazis oder der ehemaligen
Sowjetimperialisten ähneln.
Neunundzwanzig Jahre ist
es im Juli 1998 her, dass Menschen erstmals den Mond betraten. Waren
es Wissenschaftler in moralisch vertretbarem Sinne? – Wohl kaum!
Die „Errungenschaften“ verdanken wir einem Wahnsinnswettlauf
zwischen den beiden damaligen Großmächten, im Zuge dessen sich
beide Seiten überhaupt nicht scheuten, zwielichtige deutsche
Wissenschaftler zu beschäftigen, die unter der Naziherrschaft die
Kriegsmaschinerie sogar mit Gefangenen der Konzentrationslager
vorangetrieben hatten. Und als dann weitere Mondlandungen erfolgten,
führten diese zwar auch zu wissenschaftlich sachlichen
Erkenntnissen, aber Astronauten zogen anschließend religiös
missionierend durch die Länder und erzählten unter anderem
dümmliche Märchen vom „Genesis Rock“, dem lunaren Stein der
Weisheit: Gott hatte sie derartig erleuchtet! Und das naive Volk
folgte ihnen scharenweise.
Es
ist eine Bedeutungsverdrehung, Theologie als Wissenschaft zu
bezeichnen, denn Religion und Wissenschaft schließen einander aus;
es sei denn, die Wissenschaft, als solche immer religionsfrei,
untersucht die Religionen. Dann tritt schlagartig die
Beziehungslosigkeit dieser unvereinbaren Denkstrukturen zutage.
Hinwendung zum Mystizismus (Geheimnis des Glaubens) meint doch das
Verlassen der Logik mit dem Anspruch auf „Strahlende Wahrheit“
(„Enzyklika“,
Papst Paul II.).
Dennoch kann ein
Wissenschaftler religiös sein; er besitzt als Mensch alle Rechte der
Glaubens- und Meinungsfreiheit. Schließlich ist es nicht Aufgabe der
Wissenschaft, den Sinn des Lebens zu erkennen oder gar die Existenz
oder Nichtexistenz von Göttern zu beweisen. Die Frage ist, ob der
Wissenschaftler sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit frei halten
kann von religiösen Voreingenommenheiten gegenüber dem
Forschungsgegenstand.
Ein
exemplarisches Gegenbeispiel findet sich in der astronomischen
Zeitschrift „STAR
OBSERVER“, 1/1994 aus
Österreich. In der allerersten Ausgabe wurde über Giordano Bruno
berichtet, der bekanntermaßen im Jahre 1600 „wegen Ketzerei“
durch die Kirche auf dem Scheiterhaufen endete. Der österreichische
Wissenschaftsminister schickte die Ausgabe an den Direktor der Wiener
Universitäts-Sternwarte und fragte an, ob die Zeitschrift
subventionswürdig sei. Der Direktor – auch Theologe! – äußerte
sich nicht nur negativ, sondern meinte, der Fall G. Bruno habe sich
ja ganz anders abgespielt. Da erübrigt sich eigentlich die
Feststellung, dass beide Herren mit „Wissenschaft“ offensichtlich
nichts verbindet.
Weitaus unangenehmer ist
aber die versteckte Indoktrination im Tarnmantel von Toleranz,
durch Glaubenssätze, die mit wissenschaftlich-staatsmännischer
Miene vorgetragen werden. Dazu Ausschnitte der Rede des früheren,
allseits geachteten und geschätzten deutschen Bundespräsidenten,
Richard
von Weizsäcker, am 8.
Mai 1985 „Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa
und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“: „Manche junge
Menschen haben sich und uns in den letzten Monaten gefragt, warum es
vierzig Jahre nach Ende des Krieges zu so lebhaften
Auseinandersetzungen über die Vergangenheit gekommen ist. ... Worin
liegt die innere Notwendigkeit dafür?“ Der Bundespräsident meint:
„... wir sollten die Gründe dafür nicht vornehmlich in äußeren
Einflüssen suchen..... Auch hier erlauben Sie mir noch einmal einen
Blick auf das Alte Testament, das für jeden Menschen, unabhängig
von seinem Glauben, tiefe Einsichten aufbewahrt. Dort spielen vierzig
Jahre eine häufig wiederkehrende, eine wesentliche Rolle.“
Mit
Verlaub, die Bibel – ob Altes oder Neues Testament – bedeutet für
Millionen Menschen gar nichts. Die heute erforderlichen „tiefen
Einsichten“ sind dort keineswegs vorhanden, eher das Gegenteil.
Aber der Bundespräsident fährt fort: „Vierzig Jahre sollte Israel
in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit
dem Einzug ins verheißene Land begann. ... An anderer Stelle aber
(Buch der Richter) wird aufgezeigt, wie oft die Erinnerung an
erfahrene Hilfe und Rettung nur vierzig Jahre dauerte. Wenn die
Erinnerung abriss, war die Ruhe zu Ende. So bedeuten vierzig Jahre
stets einen großen Einschnitt. Sie wirken sich aus im Bewusstsein
der Menschen, sei es als Ende einer dunklen Zeit mit der Zuversicht
auf eine neue Zukunft, sei es als Gefahr des Vergessens und als
Warnung vor Folgen.“
Jeder
Skeptiker fühlt sich unweigerlich an esoterische Ausführungen von
Okkultisten erinnert; es fehlt eigentlich nur der Hinweis, dass auch
irgendein Stern immer wieder, alle vierzig Jahre in irgendeinem
Symbolfeld auftauche.
Liz
Greene, amerikanische
Astrologin, erhellt Zusammenhänge: „Der Uranus braucht
vierundachtzig Jahre für seine Umlaufbahn um die Sonne, und er
bildet eine Opposition zu seinem Stand im Geburtshoroskop, wenn der
Mensch zwischen vierzig und zweiundvierzig Jahre alt ist. Dadurch
fällt er mit der Phase psychischer Entwicklungen zusammen, die Jung
die Krise in der Lebensmitte nennt. Bei diesem kritischen Punkt ist
nicht nur der Uranus-Zyklus involviert. Wir dürfen nicht vergessen,
dass Saturn seinen Zyklus alle neunundzwanzig Jahre vollendet und
alle sieben einen bedeutenden Aspekt zu seinem Geburtsstand bildet.
Vierzehn Jahre nach der Rückkehr Saturns hat der Planet wieder
einen halben Zyklus vollendet. In unserem zweiundvierzigsten
Lebensjahr steht er dann in Opposition zu seinem Geburtsstand. In
diesem Alter müssen wir also mit dem Einfluss zweier wichtiger
Transite fertig werden.“ (Wiechoczek,
R.: Uranus lächelt über Hiroshima, Die horoskopierte Gesellschaft,
Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen,
München 1992)
Der
Bruder des Bundespräsidenten, der weithin bekannte und anerkannte
Physiker, Prof.
Dr. C. F. von Weizsäcker,
teilte in persönlichem Schreiben vom 22.10.1985 mit, dass „empirisch
recht gute Argumente für z. B. astrologische Charakteranalysen
vorgebracht werden können.“
Wer
sich je rational mit der Astrologie auseinandersetzt hat, weiß, dass
es sich um selbsterfüllende Aussagen und Prophezeiungen handelt.
Darüber hinaus wenden sich die Argumente, die gegen die
Ersatzreligion Sterndeutung gerichtet sind, gleichermaßen gegen jede
Religion.
Fasst
man hingegen „Religiosität“ weiter im Sinne von Ehrfurcht vor
der Größe der Natur, im Sinne von Erkenntnis der eigenen
Begrenztheit und Selbstbescheidung, dann erscheint Religiosität als
sogar logische Folge, auch in der Hinwendung zum Mitmenschen und zur
Umwelt, als Begründung einer überzeugenden Humanität.
Albert
Einstein: „Das
Moralische ist ihm (dem Wissenschaftler; d. Verf.) keine göttliche,
sondern eine rein menschliche Angelegenheit.“ Und: „Sie werden
schwerlich einen tiefer schürfenden wissenschaftlichen Geist finden,
dem nicht eine eigentümliche Religiosität eigen ist. Diese
Religiosität unterscheidet sich aber von derjenigen des naiven
Menschen. Letzterem ist Gott ein Wesen, von dessen Sorgfalt man
hofft, dessen Strafe man fürchtet – ein sublimiertes Gefühl von
der Art der Beziehung des Kindes zum Vater – , ein Wesen, zu dem
man gewissermaßen in einer persönlichen Beziehung steht, so
respektvoll diese auch sein mag. Der Forscher aber ist von der
Kausalität allen Geschehens durchdrungen.“ (Einstein,
A.: Mein Weltbild, Hrsg.: C. Seelig, Bertelsmann, Gütersloh)
Am
Beispiel des inzwischen zusammengebrochenen sowjetischen Kommunismus
schilderte Konrad
Lorenz eindrucksvoll,
welche Menschen am anfälligsten sind für geistige Vergewaltigung:
„Eines aber ist mir ... klar geworden ... Es ist dies die Tatsache,
dass die sozial am besten veranlagten, gutherzigsten und
anständigsten Menschen gegen die Anschläge des indoktrinierenden
Demagogen besonders wehrlos sind. Vor allem hindert sie eine
wirkliche Tugend, nämlich ihre Treue, daran, sich von der Doktrin zu
lösen, selbst dann, wenn sie ihre Wertlosigkeit voll durchschaut
haben. Wenn man die Tragik dieser Treue eingesehen hat, fühlt man
die Verantwortlichkeit, die Jugend vor den Leimruten der
Indoktrination jeder Art zu bewahren.“ (Lorenz,
K.: Der Abbau des Menschlichen, Bertelsmann, Gütersloh, 1983)
Bereits im Jahre 1981
habe ich in einem Aufsatz die idealistische Philosophie der
„Kosmonomie“ vorgestellt. Wissenschaft wird definiert als
forschende Disziplin, die für ihre Ergebnisse über eindeutige
Beweisführungen verfügt, unabhängig von Religion, Parteipolitik,
Kapital und Mode. Die sogenannten Geisteswissenschaften arbeiten
bisher zu „unsauber“ und sind besonders anfällig gegenüber
Esoterik, Unfug und Spuk.
Irrungen der
„Wissenschaft“ begründen sich in voreiliger kommerzieller
Ausschlachtung, in persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen und in
niederem, vordergründigem Konkurrenzverhalten der sogenannten
Wissenschaftler zueinander sowie im Phänomen des Fachidioten und
eines aufgeblähten Beamtentums. Kosmonomisch verstandene
Wissenschaft basiert, trotz des stets eiligen allgemeinen
Fortschritts, auf sorgfältiger Selbstkritik im Bewusstsein der
Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten und mit dem Blick über
lokale Horizonte hinaus, in der Vergegenwärtigung, dass alles nur in
kosmischen Zusammenhängen realistisch erforscht werden und zum
Nutzen der Menschheit Verwendung finden kann.
Freilich sieht die
Wirklichkeit ganz anders aus, wenn nicht gar hoffnungslos. Eine
Gesellschaft, die auf ministerieller Ebene erdstrahlgläubige
„Wissenschaftler“ fördert, die im Gesundheitswesen zu
Gesundbeterei, Quacksalberei, mit Religion vermengter Meditation und
Selbstverwirklichung durch „Selbstheilung“ zurückkehrt, deren
sogenannte „Wissenschaftler“ immer häufiger über den Dooms Day
(Weltuntergang) orakeln, scheint bereits endgültig kaputt.
Sehen
wir aber für unsere Nachfolgegenerationen nicht zu schwarz? Die Erde
könnte sich viel schneller als erwartet selbst von einer solchen
Menschheit heilen, denn so mancher Mensch würde vielleicht schnell
lernen, wenn ihn die allgegenwärtige Misere noch unbarmherziger dazu
zwänge. Die zahlreichen freireligiösen, humanistischen Gruppen
sollten endlich konkret über politische Machtgestaltung nachdenken.
Das bisher kaum merkliche Gewicht entspricht jedenfalls nicht der
Zahl religionsfreier Menschen.
©
Raymond Walden