Mittwoch, 22. Juli 2020

Menschliches Glauben: Lehrer als Therapeuten (S. 120)


Februar 1995

Therapeut (grch. „Wärter, Pfleger“), Heilbehandler, jemand, der eine Therapie (Heilbehandlung) anwendet; behandelnder Arzt. Quelle: Die Große Bertelsmann Lexikothek.
     Glaubt man dem scheidenden NRW-Kultusminister, Hans Schwier, und wer glaubt einem so erfahrenen Pädagogen nicht(!), dann haben alle Schulreformen, einschließlich geisteswissenschaftlicher Lehrplanüberfrachtung, gleichmachender Gesamtschule und unverminderter Religionspräferenz, die heutigen Schülergenerationen krank gemacht. Für die Zukunft sieht Schwier realistischerweise Behandlungsbedarf, denn er forderte, der Lehrer von morgen müsse verstärkt „Therapeut, Freizeitgestalter, Freund und Helfer“ sein.
Die Aufgabe der fachlichen Vorbereitung unserer angehenden Pädagogen werde durch die Universitäten voll und ganz erfüllt, aber es bestehe Nachholbedarf, was die „erzieherische Kompetenz“ betreffe. – Man glaubt, nicht richtig zu verstehen. Waren es nicht die Reformpädagogen der 70er Jahre, die hauptsächlich auf fachliche, eher unpersönliche Wissensvermittlung setzten?
     Wichtige Kernbereiche wie Lern- und Entwicklungspsychologie sowie Sozialpädagogik, die zur Bewältigung der vielfachen Probleme in der heranwachsenden Generation einfach dazugehörten, würden vernachlässigt. „Wie soll aber der Lehrer später auf aktuelle Konflikte reagieren, wenn er nicht weiß, nach welchen Mechanismen sich Aggressionen entwickeln?“ fragte der Minister.
     Ihm und allen nach ihm regierenden Ideologiepädagogen, rot wie schwarz, erlaube ich mir, eine Nachhilfeminute in Soziologie zu erteilen. Man verfahre wie folgt:
  1. Man gründe mehr Privatsender mit „Crime-and-Sex-Programmes“ …,
  2. überlasse immer mehr ausländische Schüler und Spätaussiedler ohne deutsche Sprachkenntnisse der Regelschule, natürlich ohne zusätzliche Förderung ...,
  3. senke das Bildungsniveau in überbevölkerten „Bildungsfabriken“ ...,
  4. verwässere verwaltungsaufgebläht die Durchsetzung der fundamentalen Jugendschutzgesetze ...,
  5. toleriere dumme Jugendzeitschriften, welche die Jugend de facto um des Profits willen verachten, indem sie ihre Leser durch Vortäuschung falscher Lebenssichtweisen in die Irre führen, usw. usw.
     Und dann werden sich Professoren als nützliche Idioten dieser Philosophie finden und den Pädagogen und Schülern „Medienkunde“ als Unterrichtsfach anbieten! Die erforderlichen Unterrichtsstunden wird man in naturwissenschaftlichen Fächern und vielleicht in Deutsch und Mathematik einsparen oder sie entsprechend integrieren.
     Ein Staat, und sei er noch so demokratisch, der seine Schüler zum großen Teil für krank, der Therapie bedürftig erklären müsste, wäre von der Wurzel her marode, er wäre selbst die Krankheit. Die Therapeuten hätten wirklich ein unübersehbares Betätigungsfeld vor sich: die Parlamente sowie Opportunisten aller Art. Allein, die Therapeuten gibt es nicht. Dieses System kann nur noch auf Wunderheiler hoffen. – Oder auf mutige Nonkonformisten, die weder „Gott noch Teufel“ fürchten.


© Raymond Walden




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