Mittwoch, 5. Februar 2020

Menschliches Glauben: Es grinst die ideologische Fratze (S. 53)


September 1995

Es wachse eine Generation von Egoisten heran, meinte die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Frau Marienfeld, die steigende Zahl der Kriegsdienstverweigerer kommentieren zu müssen. Christliches Verständnis bevorzugt wie eh und je den Tötungsdienst gegenüber dem Zivildienst!
     Erfreulicherweise widerspricht indirekt das höchste deutsche Gericht erneut: Man darf Soldaten als „Mörder“ ansehen, ohne das Volk zu „verhetzen“. (Was auch immer „verhetzen“ sein soll.)
     „Ich als Zahnarztfrau empfehle ...“, in diesem Stil stiefelte die US-Präsidentenfrau H. Clinton, bedacht auf Eigendarstellung, mit perlweißem Lächeln ans Pekinger Rednerpult der UN-Frauenkonferenz. Und in diesem menschenverachtenden Regime des Gastgeberlandes brachte sie Fundamentales über die Lippen: Frauenrechte seien Menschenrechte und umgekehrt. – Nebenbei sei erlaubt, darauf hinzuweisen, dass die Politik ihres Mannes alles daransetzt, mit den chinesischen Menschenverachtern gute Geschäfte zu unterhalten.
     „Gestalten und sparen“, beweihräuchert CSU-Weigel den Haushalt der Bundesrepublik Deutschland, den er zu verantworten hat. Auf 60 Milliarden DM (!!!) steigt die Neuverschuldung dieses Zahlenjongleurs im christlich-bayerischen Habitus.
     Das höhere Interesse der französischen Nation steht für den Präsidenten der Käse- und Rotwein-Republik ohne Zweifel im Vordergrund, wenn es um die Durchsetzung von Atomtests in kolonialen Territorien geht. Der Ewiggestrige erdreistet sich sogar, europäische Solidarität für sein regional-nationalistisches Muskelspiel einzufordern. Greenpeace, keineswegs moralisch sauber, hat mehr Format als Bundeskanzler Kohl, der das wieder einmal einer doppelten Moral folgend aussitzt.
     Seine neuerliche Begegnung mit Jelzin beschrieb er folgendermaßen: Russland sei eine erste Adresse im Balkankonflikt; wer das nicht begreife, habe von Geschichte keine Ahnung. Stimmt!
     Unterstützte Russland nicht, religiös bedingt, die Serben und Deutschland die Gegenseite (oder wen dort immer, besonders mit Waffen), dann ließe sich wahrscheinlich schnell Frieden schaffen. Die beiden verstehen sich aber, daher geht das De-facto-Sterben weiter. – Und die deutsche Rüstungsindustrie sichert weitere Arbeitsplätze für Kohls nächsten Wahlkampf.
     Am 3.9.95 empfange ich abends auf 11.675 MHz einen englischsprachigen Kurzwellensender mit einer religiös-fundamentalistischen Abhandlung über Theorien der Kindererziehung. Die Verbohrtheit gipfelt in der Frage, wozu Theorien zur Kindererziehung überhaupt gut wären. Es gäbe doch die Bibel und die sei diesbezüglich keine Theorie, sondern Fakt. Die Redaktion sitzt in Würzburg, Deutschland und ist als „Universelles Leben“ einschlägig bekannt. Der Sender allerdings, der regelmäßig geistliche Ergüsse solcher Qualität verbreitet, ist noch bekannter: Radio Moskau, Worldservice!
      Über die ASTRA-Satelliten habe ich auch die freie Wahl, RTL-Radio, in sauberster Tonlage zu konsumieren, in endlosem Wiederholungszirkus alter Schlager (manchmal durchaus anregend), garniert mit der üblichen penetranten Werbung, die dem Programmwechsel dann schließlich Vorschub leistet. Am gar nicht so späten Abend liefert der Nostalgiekanal das auch bei der von ihm angepeilten Hörerschaft offensichtlich unverzichtbare religiöse Betthupferl, gesprochen in „biblischer“ Tonlage. Ich möchte das nicht unterbinden, aber ich wünschte mir in meinem – technisch sehr breiten – Empfangsspektrum nur einen religionsfreien und unabhängigen Kanal.
     Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kommentiert am 4.9.95 den klassischen religiösen Brennpunkt: „Es bleibt dabei: Jerusalem ist eine heilige Stadt, in der es, der Politik wie der Religion wegen, oft unheilig zugeht.“
     Zweimal klebte ich einen Aufruf in einer Provinz-Hochschule an die Wand, um Kontakt zu religionsfreien Menschen aufzunehmen. Die längste „Überlebenszeit“ meiner wirklich dezenten Zettel betrug etwa 2 ½ Stunden. Sie wurden beseitigt. Was würde wohl passieren, stellte ich mich beim nächsten Mal schützend davor? (Was ich keineswegs vorhabe.)
     „Fratzen“ mögen auch abstoßen durch Überzeichnung. – Werden sie gewöhnlich nicht unterzeichnet?


© Raymond Walden


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Redaktioneller Hinweis:
Im Monatsarchiv fehlen die ersten drei Spots, sie lassen sich aber wie folgt aufrufen:
1.2. Sequenzen von Skepsis (365)  
2.2. Menschliches Glauben: Bequeme Uneinigkeit (S. 50)
3.2. Nicht nur das Klima ändert sich 







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