Montag, 2. November 2020

Menschliches Glauben: Sexualität (S. 192)

 


Lebewesen sind mit einem dominanten Sexualtrieb ausgestattet, der die Fortpflanzung garantiert. Er ist so machtvoll, dass er einen wesentlichen Teil des Lebens überhaupt darstellt. Und ausgerechnet der Umgang mit diesem Leben erhaltenden und Leben erzeugenden Trieb wird durch Menschen dogmatisiert, mit „Unreinheit“ und „Teuflischem“ in Verbindung gebracht, um Orientierungen durchzusetzen, die als Jungfräulichkeit, Wegsperren, Verschleiern und Beschneidungen von Frauen, als Unschuld, Keuschheit, Verurteilung lustvoller Gedanken wie der Selbstbefriedigung, als Manneszucht, Zölibat und so weiter propagiert werden und sich bis zur Jungfrauengeburt auswachsen. Mütter werden allen Ernstes nach der Geburt eines Kindes „ausgesegnet“ – gereinigt!

     Die Tierwelt lässt vielfältige sexuelle Verhaltensweisen zu und ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Antrieb für die jeweilige Lebensart, zugleich Bestandsgarantie und nicht etwa Untergang der Tiere bedeuten. Es gibt lebenslange Partnerschaften wie wechselnde Beziehungen, patriarchalische wie matriarchalische Gepflogenheiten, die Vielweiberei wie die Vielmännerei, Geschwistersexualität, elterliche praktische Sexualanleitungen für den Nachwuchs, Brunftzeiten wie die ständige Bereitschaft zur Fortpflanzung. Keines dieser Verhaltensmuster ist zwingend für die menschliche Sexualität, denn wir verfügen über das mehr oder weniger ausgeprägte reflektierende Bewusstsein, das uns zwar vom Tier abhebt, aber wie schon erwähnt, fatal unterentwickelt ist. Denn trotz oder wegen aller aufgesetzten Moral geht es den Beteiligten mehrheitlich nicht gut: Ehescheidungen, Partnerschaftsabbrüche, Zerrüttungen, Not der Kinder. Mehr noch, die dogmatisch-religiösen Fremdbestimmungen erzeugen mit kompromissloser Durchsetzungsgewalt Betrug in den Partnerschaften, Prostitution und Kindesmissbrauch, Leidensdruck, an dem sich eine zwiespältige Masse, wenn es denn öffentlich wird, verschämt lustvoll delektiert, ehe sie sich angeblich mit Abscheu abwendet. Bewusstseinsspaltung durch möglichst frühe Gehirnwäsche ist die eigentliche Schwäche, nicht die „Erbsünde“ der Menschheit, weil gerade auch viele der Moralhüter bezahlten Sex konsumieren, den sie durch die Diskreditierung der daran beteiligten Menschen scheinheilig verdammen.

     Man hat sich offensichtlich daran gewöhnt, dass vor allem in christlich-jüdisch-abendländisch geprägten Presseerzeugnissen und Internetangeboten barbusige oder in anderer Weise verführerisch dargestellte Frauen, seltener auch Männer, als verkaufsfördernde Signale für alles Mögliche herhalten. Welche Fehlentwicklung verbirgt sich hinter auf offensive Sexualität abgestimmter Mode? Besonders bei „teuren“ Kreationen lässt man Busen und Schambehaarung „durchschimmern“ und verurteilt gleichzeitig jeden darauf eindeutig ansprechenden Mann als Sexisten. Da laufen minderjährige Schülerinnen mit stark entwickelten Brüsten durch die Schulen, präsentieren ihren freien Bauchnabel und tragen die Hüften so tief entblößt, dass ihre modischen Strings sichtbar werden. Reize, die den natürlichen Sexualtrieb sowohl der Frauen bzw., Mädchen als auch – in besonderem Maße – der Jungen und Männer anregen. Aber alle sollen nicht dürfen! – Eine seltsame Entartung von Sexualität, die gegenüber dem Tierreich alle Merkmale von Widernatürlichkeit trägt.

     Und solche Verblendungen sind es, die der Gesellschaft die Normen gleichsam wie Hörner aufsetzen. Mithilfe von geistlichen oder juristischen Roben verkleidete Ordnungsapostel verkünden moralisch unanfechtbar die Sexualtabus unter Androhung und Ausführung der Strafen bis hin zur Steinigung. Für wie verwerflich, verdammenswürdig, gesellschaftsschädigend, untragbar, detailliert öffentlich aufklärungsbedürftig – und nicht selten vernichtenswert stuft man je nach Kulturkreis sogar leichte Tabuverletzungen ein!

     Wie viel niederträchtige Machenschaften und Morde, sogar Kriege inszenieren sich allein aus dem Problemfeld Eifersucht! Aber da ähneln Menschen, zumindest die männlichen, beispielsweise dem stolzen Hirsch, der keinen Nebenbuhler duldet, um alle Hirschdamen seines Rudels zu besitzen. Wie viel primitive Tratschmentalität wird auf der Basis verbotener Sexualität seit jeher salonfähig! Dabei wiegt ein falsches Umgehen mit dem menschlichen Sexualtrieb gerade besonders schwer, weil wegen ideologischer Fremdbestimmung und angesichts medizinisch verbesserter Lebensumstände menschliche Fortpflanzung ausufert und völlig unkalkulierbare globale Bedingungen verursacht: Leicht zu praktizierende Methoden der Empfängnisverhütung, des Lustgewinns und zugleich des Gesundheitsschutzes werden rigoros durch Traditionen und vor allem religiöse Bevormundung verhindert. Nicht das Unterdrücken des sexuellen Trieblebens soll in Zukunft die Menschheit prägen, sondern das menschlich-humane Erleben eines überaus reichen Lebenstriebs.

     Eine völlig indiskutable „Leistung“ so vieler Religionen ist die Minderbewertung der Frauen, die ein katastrophales Weltverständnis offenlegt, aus dem sich die Menschheit erst noch befreien muss, wenn sie denn überhaupt noch Perspektiven entwickeln möchte.

     Mögen im Tierreich Gewalt und sogar tödliche Rivalitäten als sexuelle Spielarten auftreten, so sind sie doch nicht vorherrschend. Der Mensch indes ist das einzige Wesen, das mit seiner Sexualität offensichtlich nicht zurechtkommt, weil er sich nicht frei zu ihr bekennen darf – was allerdings von glaubensfesten Zeitgenossen vehement geleugnet wird.


© Raymond Walden 

 

 

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