Donnerstag, 12. November 2020

Menschliches Glauben: „Beugebilder konturstarker Kontraste“ (S. 203)

 


August 1997


So oder ähnlich könnte ein soziokulturell pädagogisierender Psychophilosoph auf sich aufmerksam machen, um seine innovative "Zurück-zur-Natur-Bewusstseinsspaltung" im Feuilleton zu vermarkten.

     Ich möchte jedoch diese meine wortgewaltige Ausdruckskreation ganz nüchtern abschminken, um einen plausiblen Sachverhalt zu beschreiben, der allerdings aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen Normierungen auch einiges Unverständnis erzeugen dürfte.

     Zunächst zur Physik: Licht wird an scharfkantigen Hindernissen, auch engen Gittern, gebeugt, Interferenzen der verschiedenen Wellenlängen verursachen Richtungsänderungen, spektrale Zerlegungen. Konturen bezeichnen klare Grenzen, Umrisse eines Gegenstands, eines Bildes; Kontraste meinen Gegensätze, etwa hell – dunkel, aber auch heiß – kalt, laut – leise etc.

     Zur Sache: Bedenken wir einmal konsequent die Situation eines atheistischen, kausal denkenden Zeitgenossen, der sich demokratischen und humanistischen Werten verbunden fühlt. Wie sieht seine alltagsgeprägte Standortanalyse aus?

Selbst wenn die eigene Familie religionsfrei sein sollte, stößt der Freidenker bei allen möglichen Lebensbanalitäten auf religiöse Eingefahrenheiten, die ihm von gedankenlos Übernommenem über bewusst gepflegtes Brauchtum bis hin zur ungeniert ausgeübten Indoktrination eine Fülle esoterischer Beschränktheiten aufdrängen. Wollte man dagegen ernsthaft ansteuern, verschwendete man einen erheblichen Teil seiner Lebenszeit der Verneinung; den Okkultisten ermöglichte man tatsächlich ihr Vorurteil über den "Geist, der stets verneint". Bei allem Engagement gegen das Glauben schlechthin scheint es mir viel wichtiger zu sein, sich zunächst die eigenen Lebenswerte zu erschließen, sie durch Hinterfragen immer wieder fortzuschreiben, Leid auf diese Weise leichter zu ertragen, die Freuden um so bewusster zu genießen, sie sogar herbeizuführen! Im Hinblick auf die Außenwelt ergeben sich deshalb permanent Diskrepanzen; sie zu verifizieren, kann sehr viel Selbstsicherheit und persönliche Zuversicht erzeugen. Zwangsläufig resultiert daraus im Verhältnis zu Gläubigen eine graduelle Ablehnung oder zumindest Reserviertheit. Man kann verantwortungsbewussterweise dem Gläubigen nicht bei jeder Gelegenheit den eigenen Unglauben aufdrängen, während freilich der Gläubige sein Gottvertrauen allgegenwärtig sich selbst bestätigt oder von außen beglaubigt sieht. Diesem Faktum müssen wir Gottlosen uns an der Jahrtausendschwelle weiterhin beugen. Individuell allerdings entscheiden wir über das Maß der "Verbiegung", die Unschärfe der Konturen und die Abschwächung der Kontraste unseres Ichs zur religiösen Umwelt, und das hat nichts mit Opportunismus, wohl aber mit realistischer Abschätzung eigener Wirksamkeit zu tun. Aus diesem permanenten Druck des Teilkompromisses gegenüber jahrtausendealten geistlichen Eintrichterungen bietet sich neben der Besinnung auf sich selbst aber auch der Dialog mit Religionsfreien an. Zahlreiche dieser Spezies sind nach dem Überwinden von Religion und Esoterik so enttäuscht von der Menschheit, dass sie sich vorzugsweise einigeln, resignieren oder ihre freiheitliche Trägheit pflegen. Zweifellos hat jeder das Recht, so zu leben. – Aber ist das Leben?


© Raymond Walden

 

 

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