Sonntag, 2. Februar 2020

Menschliches Glauben: Bequeme Uneinigkeit (S. 50)


September 1995

Die wirklich religionsfreien Menschen bilden nur einen geringen Teil derjenigen, die sich von Kirchen abwenden, denn zahlreiche der angesprochenen Begründungen für Kirchenaustritte signalisieren keineswegs „Gottlosigkeit“, sondern lediglich Unzufriedenheit mit den irdischen Verwaltern des „Gottesreiches“.
     Dass dies so ist, spiegelt sich meines Erachtens auch wider in der Bedeutungslosigkeit offiziell konfessionsloser Bevölkerungsanteile, sind doch die den Kirchen Entronnenen zumeist durch und durch Individualisten mit wenig Sinn, irgendeiner gemeinschaftlichen konfessionsfreien Idee zu gesellschaftlichem Gewicht zu verhelfen.
     Und so bilden die sich einer Konfession Verweigernden ein konträres Abbild der Religiösen: zersplittert, uneins. Der Kontrast besteht in diesem Falle im Totschweigen, denn alle religiösen Gruppen, selbst wenn sie im Innersten zerstritten sind, verfügen über Anhängerscharen, während die Gegenseite aufgrund mangelnder Organisation gar kein „Gegen“ darstellt. Mancher beklagt dies – ich nicht.
     Ein „Gegengewicht zu Religiösen“ aufzurichten, hieße, sich mit ihnen auf eine Stufe zu stellen, zu missionieren und zu indoktrinieren. Was allerdings fehlt, ist der freundliche Kontakt Religionsfreier untereinander, und der sollte schon etwas „organisiert“ werden, könnte durchaus ein wenig Engagement vertragen. Doch da sind sich viele Menschen gleich, sie schätzen die Bequemlichkeit.
     Allerdings, so meine ich, müssten sich Religionsfreie, sofern sie seriös sind, wenigstens darum bemühen, sich nicht als „Atheisten“ (gegen Gott) abstempeln zu lassen. Wo bleibt die Logik: Kann man gegen etwas sein, das es gar nicht gibt?
     Ich bin von meinem Selbstverständnis her religionsfrei, denn ich bejahe sowohl die Lebensdynamik wie das Lebensende aus meinem Weltbegreifen heraus. Religion reduziert sich auf Todesverdrängung und die Vertröstung auf sorgenfreie Zeiten in angeblichen Paradiesen. Und diese Verdrängung hat durchaus etwas mit Dummheit zu tun. Dummheit aber ist aus sich heraus unaufklärbar.
     Ein solches Fazit mag im Hinblick auf die menschliche Zukunft deprimierend wirken, ist aber Faktum. Deshalb: nicht „Gegengewicht“, wohl aber eigenständiger Standpunkt.


© Raymond Walden



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