Samstag, 31. Oktober 2020

Menschliches Glauben: Das Animalische als Trieb irrationaler Tabus (S. 191)

 


Einigkeit besteht bei Wissenschaftlern wie bei den meisten religiös Gläubigen in der Gewissheit, dass Tiere ihren Trieben gemäß leben, weil sich dieses Triebleben für die jeweilige Tierart im Laufe der Evolution als vorteilhaft erwiesen hat. Nun hat sich zweifelsfrei gezeigt, dass der Mensch biologisch dem Tierreich angehört, aber diese Erkenntnis führt zu Konflikten, weil sich vor allem religiöses Sendungsbewusstsein nicht mit folgender Tatsache abfinden kann: Der Mensch ist ein höher entwickeltes Tier!

     Dabei sprechen die Fakten eine noch viel drastischere Sprache: Der Mensch trägt im Herdenverbund die Merkmale dessen, was er selbst als Untier bezeichnet. Keines der höheren Lebewesen vernichtet seine Artgenossen so wie der Mensch; und dazu gebraucht er vor allem jenes Organ, das ihn vorgeblich von den anderen Lebewesen unterscheidet, sein Gehirn. Diese Zentrale des Selbstbewusstseins mit ihrem differenzierten Leistungsvermögen ist deswegen zwar nicht als Fehlentwicklung zu bezeichnen, wohl aber als zutiefst verhaftet in pubertierender Zerrissenheit, mit noch nicht wirklich humanen Orientierungswerten beschrieben, die den infantilen Massenmenschen allenfalls ansatzweise ahnen lassen, was überhaupt Menschenwürde ausmacht. Nicht zufällig bezeichnen sich Religiöse als „Kinder“ Gottes und auch andere Gesellschaften sprechen von ihren Führerpersönlichkeiten als „Vater“ oder „Mutter“; es verdeutlicht sich das Anlehnungsbedürfnis.

     Unter moralischen Gesichtspunkten müssen die Triebe in der Tierwelt als wertfrei gelten, erst der Mensch macht sich Gedanken und befrachtet die ihn ebenso beherrschenden Triebe mit Bewertungen, Sublimierungen und vor allem Mysterien. Zum einen mag die Triebintensität den Menschen immer wieder sich selbst hinterfragen lassen, zum anderen sind es aber von Religionsstiftern und Herrschern aufgestellte Normen zur sogenannten Triebbeherrschung, die zu Mythen und Tabus führen, letztlich zu individuellen Verunsicherungen, auf die sich Herrschaftssysteme bevorzugt stützen. Die Machtausübung und ihre Absicherung gelingen umso leichter, je undurchsichtiger der Ethos des Moraldschungels vor allem im Wechselspiel mit Doppelmoral wird. In allen bisherigen Kulturen erfahren die animalischen Triebe, man sollte besser von biologischen Trieben sprechen, die Verbiegung in bisweilen absonderliche Tabus. Dies zu hinterfragen, gar als Dummheit zu enttarnen, bedeutet für den Nonkonformisten die eigene Ausgrenzung, Ächtung durch die Masse und oft ganz selbstverständlich den Tod – leise oder im Zuge eines Schauprozesses.


© Raymond Walden 

 

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