Mittwoch, 28. Oktober 2020

Menschliches Glauben: „Meinen Frieden gebe ich Euch.“ (S. 186)


1999


Der Herr hat zu seinen Aposteln gesagt: Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Deshalb bitten wir: Herr Jesus Christus, schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem Willen Einheit und Frieden.“ (Quelle. „Friedensgebet“ 364,2 im „Gotteslob“, Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Jungfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn, 1975)

     Das Zitat beweist, dass es der katholischen Kirche in erster Linie an ihrer Einheit und ihrem Frieden gelegen ist. Globaler Frieden steht nicht im Vordergrund, wie soll er auch, betrachtet man die Friedensphilosophie des Matthäus-Evangeliums 10, 34-36: „Glaubet nicht, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit der Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und die Feinde des Menschen werden seine (eigenen) Hausgenossen sein.“

     Allein, das „Schwert“ existierte bereits vor dem „Erscheinen“ des Herrn; das „Kommen“ war nicht nur überflüssig, sondern überaus kriegfördernd.

     Gerhard Konzelmann lieferte ein Dokument aus dem historischen Afrika. „Als aber im Frühjahr 1506 Jao I., der erste christliche König des Kongo stirbt, wird Don Afonso sein Nachfolger. Er gruppiert die Stämme, die ihm treu ergeben sind, um seine Hauptstadt. 36 Häuptlinge schwören, dem Kreuz zum Sieg zu verhelfen. Über den Verlauf der letzten Schlacht berichtet ein Brief des Portugiesen Paiva Mauso: ‘Wir riefen den heiligen Jakob , den Apostel an. Kurz darauf sahen wir, wie ein Wunder geschah. Die Feinde drehten uns den Rücken zu und flohen, so schnell sie konnten. Die Flucht erschien uns rätselhaft. Wir folgten ihnen und erschlugen viele. Keiner unserer Männer verlor sein Leben. Erst nach dem Sieg erfuhren wir den Grund der Flucht. Einer der Gefangenen sagte uns, über unserem Haufen sei plötzlich ein großes weißes Kreuz sichtbar geworden. Dieses Kreuz habe die Flucht ausgelöst. Das Zeichen war gerade geschehen, als wir den heiligen Jakob um Hilfe angefleht hatten.’

     Der zweite christliche König des Kongo regiert mit der gewohnten Grausamkeit afrikanischer Herrscher: Seinen Rivalen Mpanza a Nzinga läßt er foltern und töten. Die Verwandten, die das Bekenntnis zum Christentum verweigerten, werden bestialisch ermordet. Seine Mutter – auch sie will keine Christin werden – muss sich auf eine Matte legen, die über eine offene Grube gespannt ist. Als die Mutter standhaft bleibt, befiehlt der König, die Verspannung der Matte zu lösen: Die Frau fällt in die Grube und wird mit Erde zugedeckt. Über der lebendig begrabenen Mutter tanzen die Soldaten des Königs Afonso.“ (Konzelmann, G.: „Sie alle wollten Afrika“, Bastei-Lübbe-Taschenbuch, Band 65036, S. 73, 74)

     Nichts, so scheint es, hat sich verändert, auch an der Jahrtausendschwelle verehren in allen Erdteilen Glaubensfanatiker ihre selbstgebastelten, parteiischen Götter. Und mit diesen im Rücken lassen sich ungehemmt Kriege führen.

     „Frieden ist möglich“, meint Franz Alt, indem er die Bergpredigt und alle möglichen Religionen als humane Kraftreserven anbietet: „Das Christentum des Jesus von Nazaret hat mit dazu beigetragen, Menschenopfer und Sklaverei zu überwinden. Warum sollte es heute - zusammen mit anderen Religionen – nicht den entscheidenden Beitrag zu einer Friedensethik als Voraussetzung für Frieden leisten? Wo sonst – wenn nicht im Buddhismus und Hinduismus, im Judentum und Christentum, im Islam und Shintoismus – liegen die ethischen Kraftreserven für Humanität?“ (Alt, F.: „Frieden ist möglich“, R. Piper & Co, München, 1984, S. 104)

     Das ist die eigentliche Tragik; hatten die Religionen nicht Jahrtausende (bei geringerer Erdbevölkerung als heute) Zeit zur Bewährung? Bezeichnend ist darüber hinaus, dass Alt inzwischen nicht unerwartet in der wundersamen neuen Welle der Esoterik ebenso Wahrheiten erkennt. Aber auch das legt er seinen Lesern nahe: „Das neue, 2000 Jahre alte Menschenbild der Bergpredigt ist ein Aufruf: Entscheidet euch gegen das Gesetz der Gewalt und Vergeltung für das Gesetz der Liebe und Vergebung! – Bedenkt, dass ihr Menschen seid, und vergesst alles andere! Arbeitet an der Überwindung des unmenschlichsten aller Dogmen: dass der Mensch unverbesserlich sei! Die Kirchen lehrten bisher eine heillose Welt oder ein weltloses Heil. Doch seit der Bergpredigt könnten wir wissen: Das Heil ist nicht weltlos, und die Welt ist nicht heillos. Wenn wir mitarbeiten an der Heilung der Welt – dann werden wir verstehen und erfahren: Frieden ist möglich.“ (Quelle wie zuvor, S. 117)

     Wie wahr! Das Heil ist nicht weltlos. Die Vielzahl der Prediger und ihre Gefolgschaften haben die Welt bis an den Rand der Hoffnungslosigkeit heillos gemacht. Ich gestehe Franz Alt lautere Gesinnung zu, sein Engagement, zum Frieden zu überzeugen, verdient Achtung. Dennoch fällt mir dabei Friedrich Nietzsche ein: „Keine Macht lässt sich behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche mag noch so viele 'weltliche' Elemente besitzen; ihre Kraft beruht auf jenen zahlreichen priesterlichen Naturen, welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick und abgehärmter Leib von Nachtwachen, Hungern, glühendem Gebet, vielleicht selbst von Geißelhieben redet; diese erschüttern die Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es nötig wäre, so zu leben? – dies ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gründen sie immer von neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu widerstehen und zu sagen: „Betrogener du, betrüge nicht!“ (Nietzsche, F.: Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister; Werke in zwei Bänden, Band I, Carl Hanser Verlag, München, 1967, Lizenzausgabe für Bertelsmann, R. Mohn OHG, Gütersloh, Buch Nr. 5879, S. 268)

     Seit Menschengedenken gibt es keinen religiös fundierten Frieden, nein, viel schlimmer noch, fast jede kriegerische Auseinandersetzung besitzt einen religiösen Hintergrund. Nietzsche hat den Betrug realistisch genug skizziert: „Wenn wir eines Sonntagmorgens die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: ist es möglich! Dies gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt. – Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Altertum, und dass man jene Behauptung glaubt – während man sonst so streng in der Prüfung von Ansprüchen ist --, ist vielleicht das älteste Stück dieses Erbes. Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder zeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltuntergangs zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt; jemand, der seine Jünger sein Blut trinken heißt; Gebete um Wundereingriffe; Sünden an einem Gott verübt, durch einen Gott gebüßt; Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt – wie schauerlich weht uns dies alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheiten an! Sollte man glauben, dass so etwas noch geglaubt wird?“ (Quelle wie zuvor, S. 297, 298)

     Menschenwürde als Wertmaßstab verbietet sowohl die diktatorische Unterwerfung wie die versteckte, sich freiheitlich gebärdende Indoktrination, die sich geschäftsmäßig und machtgierig der Lüge und Täuschung bedient. Am Menschen und nicht an einer der unzähligen vermenschlichten Götterfiguren orientiert sich die Menschenwürde. Sie erfordert einen sorgsamen Umgang mit den Menschen und ihrer physischen Umwelt. Fortschreibung des ganz irdischen Lebens, keinesfalls Lebenszerstörung, ist menschenwürdiges Gebot.

     Menschen hätten nirgendwo im All ein Refugium. Unser Platz ist die Erde und es wird keine Emigrationsmöglichkeit geben. Die Menschheit lebt hier und jetzt, oder sie wird dem Tod irgendeiner unbedingten Theologie oder Ideologie die Treue schwören.

     „Sogleich aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne sich verfinstern, und der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Und dann wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen. Und dann werden alle Völker der Erde wehklagen, und sie werden den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen sehen mit großer Macht und Herrlichkeit. Und er wird seine Engel aussenden mit lautem Posaunenschall, und sie werden seine Auserwählten sammeln von den vier Winden her, von einem Ende des Himmels bis zum anderen.“ (Bibel; Matthäus, 24, 29-31, Herder, Freiburg i. Br., 1966)

     So sieht das Ende nach der allgegenwärtigen christlichen Vision aus (wissenschaftlich eine Aneinanderreihung von grotesken Albernheiten); bei anderen Kulturen nicht minder abschreckend und verwandt masochistisch, auf die Ewigkeit vertröstend. Deshalb ist Religion nicht imstande, global das Leben menschenwürdig zu gestalten.

     Es stimmt, was Friedrich Schiller in seinem „Don Carlos“ den Großinquisitor sagen lässt: „Vor dem Glauben gilt keine Stimme der Natur“. (Schiller, F.: „Don Carlos“, 5. Akt, 10. Auftritt) – Der Mensch ist Teil der Natur, Religionen hingegen sind künstlich ausgeklügelte Machwerke gegen die Natur unter missbräuchlicher Ausnutzung der natürlichen menschlichen Gefühlswelt. Religion ist so abgehoben, dass sie Frieden predigt, lokalen Frieden bisweilen vortäuscht und in zeitlich und geografisch ausgedehnteren Räumen einen Krieg nach dem anderen heiligt. Ein Hohn auf die Würde des Menschen!


© Raymond Walden


 

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