Dimensionen
im Kindesalter
August 1995
Nach 34
Jahren fahre ich 1993 auf einer Straße zurück; an den Ort
verklärter Kindheit, überzeichnet, weil politisches Irrspiel mich
über Jahrzehnte ausgrenzte. Noch einen Kilometer vor dem Ortsschild
könnte ich mich irgendwo im typisch märkischen Gelände aufhalten:
Keine Einzelheiten sind mir vertraut.
Die
Alleebäume öffnen sich; links der Bahnhof, jetzt muss die Brücke
über den Kanal kommen. Sie ist nicht mehr aus Holz. Der flüchtige
Blick aus dem Auto erfasst den „viel zu kleinen“ Kanal, ein paar
Häuser und dann schon die Kirche. So kurz die Strecke, auch zum
Marktplatz, und schon biegt die Straße aus dem Ortskern zur
Abzweigung nach Gransee. Links der alte Kindergarten: Anfang meiner
Schullaufbahn, weil die damalige „Zentralschule Lindow (Mark)“
unmittelbar vor meiner Einschulung 1952 abgebrannt ist. – Die
Tankstelle nach wie vor am Ort, Rheinsberger Straße, einige Linden,
dann das Haus, in dem wir wohnten. Alles so klein.
Als
ich den Kindertraum dieser herben Seen- und Sandlandschaft verlassen
habe, war ich mit 13 Jahren wenig älter als jetzt mein jüngster
Sohn. „Die Dimensionen im Kinderalter sind höher, weiter, tiefer“,
diese Gedanken kommen mir als erste, während ich nach 34 Jahren auf
längst vergangenem Pflaster gerüttelt werde. Zweifel entstehen, ob
ich meinen eigenen Kindern ihre „großen“ Dimensionen überhaupt
nachempfinden konnte. Waren meine Ansprüche an sie bisweilen zu
hoch?
Das
Wiedersehen mit der eigenen Vergangenheit erfolgt Dekaden zu spät,
emotionslos, es gibt vorwiegend kritische Distanz. Wäre für mich
ohne die politische Verworrenheiten, ohne die verschiedenen
Flüchtlingslager die Welt vielleicht nicht klein geworden?
Profitieren meine Kinder heute davon? Vielleicht haben sie es
leichter, Dimensionen zutreffender zu „erfahren“
– in des Wortes Doppeldeutigkeit.
©
Raymond Walden
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