Februar
1998
Das
Szenario ist so absurd, so widerwärtig, so desillusionierend.
- Akt: Ein Kind wächst in zerrütteten Familienverhältnissen auf.
- Akt: Das Mädchen wird zur drogenabhängigen Prostituierten.
- Akt: Unter abartiger sexueller Luststeigerung, vom Rauschgift benebelt, zerfleischt die Gescheiterte bestialisch zwei Menschen.
- Akt: Karla Faye Tucker, die Mörderin, wird zum Tode verurteilt – durch eine texanische Justiz, die ihre Wurzeln in der gnadenlosen Sonne der Prärie und nirgends anders hat.
- Akt: Die kranke Frau wird 13 Jahre lang in Todesangst gehalten und sie wird „erleuchtet“, liest die Bibel, wird Christin, sieht ihr Unrecht ein und bittet um Gnade.
- Akt: Die kranke Frau wird als „geläuterte Christin“ der Öffentlichkeit vorgeführt; sie vertraut der Güte Gottes, trotz aller Ablehnungen der Gnadengesuche durch die rachsüchtig unbewegliche Justiz.
- Akt: Die Medien geilen sich „am letzten Interview“ der nun religiös Abgehobenen auf (auch der öffentlich-rechtliche deutsche Kanal Phönix übernimmt von „The 700 Club“ das unwürdige Spektakel).
- Akt: Gottes Gnade versagt; die Frau wird, angeblich lächelnd und „alle liebend“, am 03.02.98 durch eine Giftspritze hingerichtet – wie schon weit über 400 Menschen in den USA vor ihr in den letzten zwanzig Jahren.
- Akt: Vor dem Gefängnis drängt sich der Mob: Die einen trauern wegen der allenthalben verloren gegangenen Vorstellung von Gnade, die anderen tanzen vor Freude, die Rache ist die ihre.
- Akt: Ein Hinterbliebener der Tucker-Opfer will auch jetzt noch nicht der Frau verzeihen, kündigt an, dass seine ermordetet Frau nunmehr im Jenseits die Gelegenheit hätte, mit der gerade dort angekommenen Hingerichteten abzurechnen – und das werde kein Vergnügen sein. Der Mann ist selbst auch Opfer der K. F. Tucker, hat offenbar seelisch viel in sich hineingefressen, was verständlich sein mag; sicher ist er krank und nicht besonders zurechnungsfähig – aber er gibt den passenden Kommentator für die dekadente Presse ab.
- Akt: ist das Vergegenwärtigen, dass in den überaus religiösen USA Todesurteile vor allem an Männern zifgach vollstreckt werden, diesmal ist es seit langen Dekaden erstmals wieder eine Frau; die nächste soll im Frühjahr folgen.
- Akt: spielt sich nicht mehr öffentlich ab, sondern nur noch in Menschen, die über ein Minimum an Gefühl und Verstand verfügen; es ist die Erkenntnis, dass die Menschlichkeit mit einer Giftspritze einen traumatischen Schaden erlitten hat – nicht nur im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Ruf nach der Todesstrafe wird auch in Deutschland immer lauter.
©
Raymond Walden
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