August
1995
Was
atheistische Uneinigkeit (Unfähigkeit?) nicht zustande brachte,
schaffte nun ein Anthroposoph: Das Kruzifix in der Schule
widerspricht höchstrichterlich der Glaubensfreiheit einer
pluralistischen Gesellschaft.
Religionsfreie
Menschen sollten nicht frohlocken, denn die oft allzu opportunen
Richter sind der doch merkwürdigen Argumentation eines Sektierers
gefolgt. Nicht nur Aufgeklärtheit spricht aus dem Urteil, sondern
auch eine Öffnung in Richtung schrulligster Weltanschauungen (die
Anthroposophie ist eine solche), wie sie nunmehr seit vielen Jahren
in Volkshochschulen und anderen Zirkeln der öffentlichen
Trägerschaft massenhaft propagiert werden und in Zukunft wohl in
noch größerem Ausmaß durch die pluralistische Gesellschaft
hingenommen werden müssen.
Interessant
ist die stürmische Reaktion mancher „Kreuzritter“. Im badischen
Südkurier schwärmt ein Kommentator vom „Eintritt in die
Kultur“ durch das Kreuzzeichen bei der Taufe. Und der glaubensfeste
Waigel (MdB und Minister), den ich im letzten bayerischen
Landtagswahlkampf in München auf Wahlplakaten gemeinsam mit seiner
Frau für eine intakte traditionelle Familie lächeln sah, obwohl er
bald darauf eine andere Frau heiratete, will sich gar starkmachen für
eine Überprüfung des Urteils, als seien die Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts für Christen nicht bindend.
Durch
die aggressive Aufgescheuchtheit so vieler bekennender Christen
dokumentiert sich wieder einmal in bedrückender Weise die Tragik der
gesamten Menschheit: Provinzialität, Intoleranz und Machtanspruch
der Religionen.
Ob
sich durch das Urteil jetzt die in Deutschland besonders verankerte
Verfilzung von Staat und Kirche aufweichen lässt? Fatal wäre es,
gelangten durch den Richterspruch vermehrt religiöse und
rückschrittlich-fundamentalistische Symbole zu einer Aufwertung.
Denn wozu heilige Symbolistik führt, wird in Israel überdeutlich,
wo die West Bank geräumt werden soll, aber die verschiedenen
religiösen Gruppen hart um „The Holiest Hot Spots“ kämpfen,
„heiligste, heiße Orte“, wo sich oft, historisch nicht einmal
abgesichert, bedeutungsschwere Symbole befinden. Treffend formulierte
es Arnon Bruckstein (Tower of David Museum, Jerusalem) in „Newsweek“,
31.7.1995: „Es gibt kaum eine blutigere Geschichte als diese.
Heiligkeit ist der besondere Kern von Intoleranz bis ans Ende der
Tage“. Und der Redakteur Jeffrey Bartholet fügt hinzu: „Gemäß
jüdischer Tradition findet man in Jerusalem das Tor zum Himmel –
und gleichermaßen das Tor zur Hölle.“ Zuvor führt er aus:
„Einige jüdische Mystiker glauben, dass man, wo immer man eine
Konzentration von Heiligkeit antrifft, auch einer größeren
Ansammlung des Bösen begegnet.“
Plausible
Hinweise für die Friedensunfähigkeit von Religion.
©
Raymond Walden