Denkwürdig
Februar
1995
Am
27.1.1945: Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die
Rote Armee; die ganze Ungeheuerlichkeit deutschen Rassenwahns lässt
sich nicht mehr beschönigen. Nun erfährt die Weltöffentlichkeit
endlich, worüber zuvor auch im Ausland kaum jemand zu sprechen
bereit gewesen ist, wovor die Diplomaten in aller Welt ihre Augen
verschlossen haben.
Nein,
es gibt nichts mehr zu vertuschen, die Schmach lastet auf uns, und
jedes einzelne Opfer, wenngleich namentlich vielleicht gar nicht erfasst,
bewirkt jetzt, dass die halsstarrigen Schädel eines aberwitzigen
Deutschtums und einer internationalen Tatenlosigkeit sich im Gedenken
an die Toten respektvoll beugen müssen.
27.1.1995:
Hochwasser in einigen deutschen Landstrichen, die Medien sind
aufgescheucht: Wird das „Jahrhunderthochwasser“ von 1993
übertroffen? – Oder leider nicht? Und nach dem gleichen Muster:
Die Überflutung auf sämtlichen Medienkanälen – mit „Auschwitz“,
das „man nicht vergessen darf“.
Nein,
dies ist ausschließlich vordergründiges Gedenken, die
mediengerechte Aufbereitung, die Stunde der Sonntagsreden. Wie ist es
nur möglich, das Andenken der unsäglichen zahlreichen Opfer,
übrigens völlig gleichgültig, welcher Nationalität – es geht um
Menschen –, derartig zu missbrauchen?
Ich
stelle Fragen:
Wo
bleibt der Hinweis, dass die Rote Armee das Lager zwar befreite,
hernach aber selbst zur Menschenvernichtung benutzte und aus ihrem
gesamten Besatzungsgebiet ein Gefängnis machte?
Wie
viele Verbrechen und Menschenopfer hat die Bundesrepublik
Deutschland mitzuverantworten, gehört sie doch seit Jahrzehnten zu
den führenden Waffenexporteuren?
Wie
viele Menschen hat der israelische Staat seit seinem Bestehen in
nationalistischer Härte ausgelöscht?
Welche
Brutalitäten leisten sich immer wieder arabische „Organisationen“?
Wie
viel Vernichtungspotential haben die USA, an der Seite eines überaus
einflussreichen Judentums und anderer religiöser Gruppen über die
verschiedenen Regionen der Welt ergossen?
Wo
überall segnen und heiligen Religionen heute nach wie vor Waffen;
dieselben Religionen, deren Vertreter in Auschwitz bei der
offiziellen Gedenkfeier ihre Gebete „performierten“?
Das
Andenken der Opfer wird schmählich geschändet, denn gelernt haben
die Staatslenker kaum etwas. Man stelle sich vor, die Opfer hätten
bei der Gedenkfeier hören können, wie die Totenkränze, vom
Getrampel der Soldatenstiefel begleitet, herangetragen wurden. Hatten
die Menschenschlächter damals nicht militärische oder
paramilitärische Uniformen angehabt? Und da schreibt der
Bundespräsident Deutschlands in Auschwitz in das Gedenkbuch: „Hier
öffnen die Toten den Lebenden die Augen“! Während er dies
schreibt, mordet der „Männerfreund“ (was immer das ist) des
Bundeskanzlers Helmut Kohl, der russische Präsident Jelzin,
ungehindert im Kaukasus. Und Vertreter aus dem sich zerfleischenden
ehemaligen Jugoslawien konterkarieren jegliche Friedfertigkeit.
Als
Deutscher verneige ich mich vor allen Opfern der Nazidiktatur; als
Weltbürger verneige ich mich nicht minder vor den Opfern aller
religiösen Fundamentalisten. Die Religionen, die jetzt in Auschwitz
„beteten“, sind seit jeher friedensunfähig.
Auschwitz
war möglich, weil opportunistische, kleinkarierte Menschen
mitmachten. Der Opportunismus beherrscht auch nach Hitler
unverändert, vielleicht sogar ausgeklügelter, die Welt, weil im
Verbund mit Religion bald jedes Knie – und jeder Mensch – gebeugt
wird.
Ich
bewundere den Filmvorführer von Auschwitz, der 2000-mal im Jahr
denselben Film über die Vernichtungsindustrie (heutige deutsche
Industrieunternehmen, offensichtlich reuelos, eingeschlossen) zeigt,
der selbst überlebendes Opfer ist und auf die Frage, ob es ihn nicht
gruseln würde, im ehemaligen Lager Auschwitz zu leben und zu
arbeiten, weit realistischer als Roman Herzog sagt: „Fürchten wir
die Lebenden und nicht die Toten.“
©
Raymond Walden