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Montag, 24. Juni 2024

In diesen Tagen. In diesem Zeitalter.

 


Dies ist das Ende der Geschichte von Bruno und seiner Familie. Natürlich geschah dies alles vor langer Zeit, und etwas Ähnliches könnte nie wieder passieren.

Nicht in diesen Tagen. Nicht in diesem Zeitalter.“

So steht es am Ende des Romans von

John Boyne, Der Junge im gestreiften Pyjama, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2007.


Bruno, 9 Jahre alt, Vater Kommandant des Lagers Auschwitz. Der Neunjährige hat keine Ahnung, was hinter dem Zaun vor sich geht, gerät durch seine Unkenntnis und Arglosigkeit in die Vernichtungsmühle seines Vaters, der nach dem ungewissen Verbleib seines Sohnes schließlich dessen tödlichen Schicksalsweg voller Verzweiflung entdeckt und von seinen eigenen Lagerwachsoldaten abgeführt wird.


Sehr berührt schließe ich das Buch.

Einige Stunden später schalte ich die Fernsehnachrichten ein: Grauenhaftes Morden und Zerstören im Gazastreifen, auf einem anderen Kanal: Krachender Frontbericht aus der Ukraine, im nächsten Programm: Ein fröhlich dreinblickender Kriegsminister auf einem herausgeputzten Panzer.

So „ähnlich“,

in diesen Tagen. In diesem Zeitalter.“ !

 

 

 

Freitag, 10. Januar 2020

Menschliches Glauben: 2. Gesellschaft, Kultur: Denkwürdig (S. 39)


Denkwürdig


Februar 1995

Am 27.1.1945: Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee; die ganze Ungeheuerlichkeit deutschen Rassenwahns lässt sich nicht mehr beschönigen. Nun erfährt die Weltöffentlichkeit endlich, worüber zuvor auch im Ausland kaum jemand zu sprechen bereit gewesen ist, wovor die Diplomaten in aller Welt ihre Augen verschlossen haben.
     Nein, es gibt nichts mehr zu vertuschen, die Schmach lastet auf uns, und jedes einzelne Opfer, wenngleich namentlich vielleicht gar nicht erfasst, bewirkt jetzt, dass die halsstarrigen Schädel eines aberwitzigen Deutschtums und einer internationalen Tatenlosigkeit sich im Gedenken an die Toten respektvoll beugen müssen.
     27.1.1995: Hochwasser in einigen deutschen Landstrichen, die Medien sind aufgescheucht: Wird das „Jahrhunderthochwasser“ von 1993 übertroffen? – Oder leider nicht? Und nach dem gleichen Muster: Die Überflutung auf sämtlichen Medienkanälen – mit „Auschwitz“, das „man nicht vergessen darf“.
     Nein, dies ist ausschließlich vordergründiges Gedenken, die mediengerechte Aufbereitung, die Stunde der Sonntagsreden. Wie ist es nur möglich, das Andenken der unsäglichen zahlreichen Opfer, übrigens völlig gleichgültig, welcher Nationalität – es geht um Menschen –, derartig zu missbrauchen?
     Ich stelle Fragen:
  1. Wo bleibt der Hinweis, dass die Rote Armee das Lager zwar befreite, hernach aber selbst zur Menschenvernichtung benutzte und aus ihrem gesamten Besatzungsgebiet ein Gefängnis machte?
  2. Wie viele Verbrechen und Menschenopfer hat die Bundesrepublik Deutschland mitzuverantworten, gehört sie doch seit Jahrzehnten zu den führenden Waffenexporteuren?
  3. Wie viele Menschen hat der israelische Staat seit seinem Bestehen in nationalistischer Härte ausgelöscht?
  4. Welche Brutalitäten leisten sich immer wieder arabische „Organisationen“?
  5. Wie viel Vernichtungspotential haben die USA, an der Seite eines überaus einflussreichen Judentums und anderer religiöser Gruppen über die verschiedenen Regionen der Welt ergossen?
  6. Wo überall segnen und heiligen Religionen heute nach wie vor Waffen; dieselben Religionen, deren Vertreter in Auschwitz bei der offiziellen Gedenkfeier ihre Gebete „performierten“?
     Das Andenken der Opfer wird schmählich geschändet, denn gelernt haben die Staatslenker kaum etwas. Man stelle sich vor, die Opfer hätten bei der Gedenkfeier hören können, wie die Totenkränze, vom Getrampel der Soldatenstiefel begleitet, herangetragen wurden. Hatten die Menschenschlächter damals nicht militärische oder paramilitärische Uniformen angehabt? Und da schreibt der Bundespräsident Deutschlands in Auschwitz in das Gedenkbuch: „Hier öffnen die Toten den Lebenden die Augen“! Während er dies schreibt, mordet der „Männerfreund“ (was immer das ist) des Bundeskanzlers Helmut Kohl, der russische Präsident Jelzin, ungehindert im Kaukasus. Und Vertreter aus dem sich zerfleischenden ehemaligen Jugoslawien konterkarieren jegliche Friedfertigkeit.
     Als Deutscher verneige ich mich vor allen Opfern der Nazidiktatur; als Weltbürger verneige ich mich nicht minder vor den Opfern aller religiösen Fundamentalisten. Die Religionen, die jetzt in Auschwitz „beteten“, sind seit jeher friedensunfähig.
     Auschwitz war möglich, weil opportunistische, kleinkarierte Menschen mitmachten. Der Opportunismus beherrscht auch nach Hitler unverändert, vielleicht sogar ausgeklügelter, die Welt, weil im Verbund mit Religion bald jedes Knie – und jeder Mensch – gebeugt wird.
     Ich bewundere den Filmvorführer von Auschwitz, der 2000-mal im Jahr denselben Film über die Vernichtungsindustrie (heutige deutsche Industrieunternehmen, offensichtlich reuelos, eingeschlossen) zeigt, der selbst überlebendes Opfer ist und auf die Frage, ob es ihn nicht gruseln würde, im ehemaligen Lager Auschwitz zu leben und zu arbeiten, weit realistischer als Roman Herzog sagt: „Fürchten wir die Lebenden und nicht die Toten.“



© Raymond Walden