Dienstag, 21. Juli 2015

Französische Essenzen


Nein, Frankreich,
es war keine Liebe auf den ersten Blick.
Wir begegneten uns damals 1959,
deine Trikolore wehte über der Kaserne im süddeutschen Donaueschingen
und ich lebte gegenüber in einem Flüchtlingsheim.
Bisher waren mir nur Russen als Besatzungsmacht vertraut gewesen.

Zehn Jahre später, Frankreich,
führte mich eine Studienfahrt zu dir,
zu deinen Reichtümern an Kultur und Natur.
In Paris fiel ein Wort deutscher Verachtung;
es war das einzige Mal, danach nie wieder.
Und, Frankreich,
es dauerte zwar etliche Jahre,
dann aber sah ich dich immer wieder,
freundlich, liebenswürdig, aufgeschlossen,
vielleicht etwas nachlässig, doch voller Zivilisation,
so gekonnt lebend, obschon voller Streikbereitschaft
und sozialer Bürden.

Ich schäme mich, Frankreich,
deine Sprache nicht gelernt zu haben.
Du machtest es mir etwas einfach,
überall mit Englisch, neuerdings auch auf Deutsch durchzukommen.
Und wenn es wirklich einmal hakte,
beim Arzt beispielsweise oder bei der Polizei
nach erlittenen Gaunereien,
waren hilfreiche Menschen zugegen.
Es ist mir aber leichter, Frankreich,
die endlosen Werbeschaltungen in den Medien und
manchen Schnulzengesang nicht zu verstehen.
Übrigens geht es mir ähnlich in Deutschland,
wenn die vorwiegend englischen Popsongs
nicht so ins Gehirn drängen wie die neu zunehmend
deutschen „Pseudophilosophien“.

Deine Pariser Politiker, Frankreich,
entziehen sich meinem detaillierten Interesse so
wie auch die deutschen in Berlin.
Die deutsch-französische Freundschaftsbesiegelung aber
schätze ich als das Größte,
das Politik je leistete.
Lass’ uns, Frankreich, nie daran zweifeln.

Dein historisches Erbe, Frankreich,
Liberté, Egalité, Fraternité,
wurde nach der Revolution in Blut gebadet,
passt auch nicht zum Text deiner Nationalhymne,
schon gar nicht zu deiner Fremdenlegion.
Die Verwirklichung aber von Aufklärung, Frankreich,
ist unser gemeinsames Projekt
für eine Menschheit,
die sich ein Beispiel an der französisch-deutschen Aussöhnung
nehmen könnte.
Verdun mahnt uns alle.
Deine großen Kathedralen, Frankreich,
wie deine kleinen muffig ärmlichen Kirchen
belegen wie die deutschen Dome und die staatlich geförderten
Kirchen dieses Landes die Untauglichkeit zur Kriegsverhinderung.
Es sind Museen mit zum Teil faszinierender Architektur.

Welche Rolle spielt es, ob das Elsässer „Sauerkraut“ so
oder „choucroute“ heißt?
Der Rhein verbindet und verfließt als gestrige Grenze.
Deine Wegelagerei, Frankreich, auf deinen Autobahnen sei dir verziehen,
bietest du doch klare Infrastruktur und freie, entspannte Reisequalität.

Ich kann nicht beanspruchen, Frankreich,
dich zu kennen.
Immer wieder zog es mich an deine Küsten,
deine große Pilat-Düne habe ich erklommen,
die Strände von St. Tropéz sind mir vertraut.
Vom Mt. Ventoux spähte ich über die Provence,
viele Orte dort habe ich nicht nur einmal besucht.
Vincent van Goghs Spuren folgte ich in Saint-Rémy,
Paul Cezannes in Aix-en-Provence,
Pierre-August Renoirs in Cagnes sur Mer.
Auf dem Nietzsche Weg stieg ich hinauf nach Èze,
Denis Diderots morbide Felsenstadt Langres
dient mir oft als Etappenziel auf langen Reisen.

Das Roussillon mit seinen Katharer-Burgen, die Vor-Pyrenäen und die 
Küsten um Argeles sur Mer mit ihren berühmten Touristen-Magneten
wurden mir wie eine zweite Heimat.
Hier genieße ich das südliche Leben, spanne aus bei
donnernder Meeresbrandung oder bei stillem Wasserspiegel,
wenn ich etwa dem Sonnenaufgang entgegenschwimme.

Dem uralten „Menschen“ von Tautavel machte ich meine Aufwartung,
Pablo Picasso traf ich wieder einmal in Ceret.
Carcasson inspirierte mich, und, völlig in der Neuzeit,
hatte ich ein Picknick am Sonnenofen von Font-Romeu.
Ich badete im Tarn an steiler Schluchtenwand, stand beeindruckt
am  Pont d’Arc in der Ardeche-Schlucht
und besichtigte das grandiose Canyon von Verdon.

Deine Märkte, Frankreich, deine Brocantes überall,
auch das internationale Publikum,
geben ein permanentes Flair à la Parfüm aus Grasse
oder besser: aus dem Duft des mediteranen Früchtemeers.

Einen Wermutstropfen muss ich vergießen: Der blutige Stierkampf in Arles hat mich am Verstand der Menschen besonders berührt zweifeln lassen.
Aber sogar deine Widersprüchlichkeiten, Frankreich, mindern nicht deine Attraktivität.

Ich habe dich, du solltest nachsichtig sein,
einfach in Gedanken vereinnahmt.
Wenn mir in Deutschland Ungereimtheiten aufstoßen,
blicke ich auf dich, finde aber keineswegs geeignete Antworten,
denn in dir erkenne ich nicht nur „leben wie Gott“,
sondern viel Zwiespalt, denke ich an die Vorstädte, an
deinen Nationalismus, Militarismus und
manche esoterische Verirrung oder auch
an die exemplarische Dekadenz  an der Cote d’Azur.

Du bist mir wichtig als europäische Wurzel,
anders als Deutschland in seiner amerikanischen Vasallenschaft,
die von den meisten Deutschen und auch anderen Europäern
nicht vergegenwärtigt wird.
Mir scheint dein Weg durch die Geschichte etwas geradliniger als
die deutschen Irrfahrten zur Gegenwart,
aber was die kleinbürgerliche Identität betrifft,
gibt es wohl viele internationale Ähnlichkeiten und
im kosmonomischen Sinne Unzulänglichkeiten.

Dein Vorzug für mich:
Ich lebe nicht alltäglich in dir, sondern bin immer ein Reisender,
ein vagabundierender Wohnwagenfahrer,
der die unkomplizierten Kontakte zu allen möglichen Menschen schätzt,
der sich aber, bis auf wenige Ausnahmen, auch der gewissen
Unverbindlichkeit im jederzeit einhaltbaren Abstand erfreut.

Stets kehre ich gerne nach Deutschland zurück,
um mich bald erneut auf dich, Frankreich, einzulassen, und sei es
über den deutsch-französischen Fernsehkanal „arte“.

Nein, Frankreich,
ich bin nicht süchtig nach dir,
dazu sah ich viele andere Länder auch.

Ich sorge mich um eine ehrliche Werte-Identität.
Sie besteht nicht in Diktaturen, Oligarchien, Monarchien
und Gottesstaaten, sondern
in republikanischer Authentizität des Individuums,
deren bisher bescheidene, aber seriöse Leichtigkeit
deine Farben, Frankreich, besonders trägt. 



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