Oktober
1995
Ich habe
Glück gehabt und fühle mich eingebettet in einen großen Bekannten-
und Freundeskreis, den ich neben dem familiären Umfeld als
wesentlichen Pfeiler meines Selbstverständnisses schätze. Aber ich
reibe mich an diesem Block der faszinierendsten gesellschaftlichen
Kristallisationen als eine sonderbare Granule innerhalb einer
gleichmäßig religiös köchelnden Sphäre.
Jeden
dieser Menschen habe ich auf bestimmte Art zu würdigen, ja manchen
zu lieben gelernt. Und sie, die Geschätzten und Geliebten, wie sehen
sie mich? – Ich glaube, viele von ihnen mögen mich eher wie die
Spritze vor dem Zähneziehen: Eigentlich wäre es schöner, bliebe
einem die religiöse Extraktion erspart, deren Notwendigkeit man aber
schon irgendwie einsieht. Im globalen Vergleich ist dann im Großen
und Ganzen richtig, was mir wohlmeinende Freunde vorhielten: „Das
Christentum ermöglicht dir deinen freiheitlichen Standpunkt.“ In
anderen Kulturkreisen hätte man tatsächlich längst einen Kopfpreis
ausgesetzt.
Aber
warum kann ich all dieses nur sehr vorsichtig in privaten
Rundschreiben formulieren? – Die Antwort ist eindeutig: Weil das
Christentum, durchaus anerkennenswert, private Freiräume akzeptiert,
öffentliche Freiräume aber noch vor dem Entstehen verschüttet.
Wägt man die Religionen gegeneinander ab, bietet das Christentum
einigen Liberalismus, der Buddhismus wahrscheinlich mehr. Allein,
alle Religionen widersprechen der Freiheit durch irrationale
Bevormundung.
So
bleibe ich, getauft, erstkommuniziert und gefirmt, ein
Religionsfreier, respektiere vorzugsweise jene Andersdenkenden, die
mir keine weltanschaulichen Vorschriften aufdrängen.
©
Raymond Walden