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Donnerstag, 2. Januar 2020

Menschliches Glauben: Angesichts der ältesten Demokratie – eines Zukunftmodells? (S. 30)


November 1998

Dem 61 Quadratkilometer großen Staat nähern sich die meisten Besucher von Norden kommend über Rimini. Nachts schon von Weitem erkennbar sind die mit Lichtern übersäten Berghänge, die hinaufführen zur eigentlichen Festung San Marino. Tagsüber, vielleicht via Ravenna die SS16 entlangfahrend, fallen vor allem dunkelhäutige, sich freizügig prostituierende Frauen auf. Der Straßenaufstieg zur Republik San Marino ist sauber von zwielichtigem Sex, aber mit kommerziellem Schilderwald zugewuchert, der Verkehrs- und Hinweisschilder nicht selten ab- oder zuschattet. „Continua 50“ wird auf den meisten Straßen signalisiert; das heißt offensichtlich für Einheimische (ungefähr 25.000), möglichst schnell überholen zu müssen. Aber keine Frage: Hier stimmt die Infrastruktur; die grandiose Landschaftskulisse und die Menschen laden ein zum Verweilen und Genießen.
     Dennoch kommen mir Zweifel im Ambiente der ungezählten kleinen Läden und Boutiquen, die in steilen Gassen ideale Motive für Fotografen abgeben. Das Sortiment quillt über, beschränkt sich aber auf folgende Bereiche: Schmuck- und Lederwaren, Uhren, Parfüms, natürlich Briefmarken, Keramik, Touristenplunder, verkitschte Heiligensymbole, Alkoholika in verführerischen Flaschen und Waffen aller Art, aus verschiedensten Epochen, vom Schlagstock, Schlagring oder Dolch, von Handschellen, Peitschen, Pistolen bis hin zur legendären Uzi, der automatischen Schnellfeuerwaffe aus Israel. Eine Hauptattraktion ist das Museum der antiken Folterwerkzeuge. Besonders an Wochenenden knallen schon zu früher Morgenstunde an den Berghängen die Büchsen der wehrhaften San-Marinesen; man sagt mir, es seien Vögel im Visier. Wie auch immer, das Schießen ist salonfähig.
     Die Frage sei gestattet, ob die san-marinesische Demokratie nicht aus tiefster Provinzialität heraus definiert und heute vor allem publikumswirksam vermarktet wird. Zwar setzt man hier zweimal pro Jahr demokratisch und besonders feierlich die beiden Oberhäupter des Staates ein, doch die katholische Staatsreligion dürfte wohl kaum andersdenkende oder ungläubige Repräsentanten zulassen. Die gesetzlichen Feiertage sind im Wesentlichen eine lange Auflistung der Kirchenfeste. San Marino ist eine Demokratie, die in globaler Denkart bestenfalls eine Puppenstubenidylle verkörpern kann. Hier wurzelt zwar das Prinzip von Demokratie und Toleranz, die Entwicklung ist aber auf einer Vorstufe stecken geblieben, mit einem seltsamen Hang zur Waffentradition. Daran ändert auch die stilisierte große Sanduhr nichts, die die atomare Abrüstung der letzten Jahre darstellt und deren Fortsetzung einfordert.
     So vermittelt der Monte Titano als Festungssitz zwar rein äußerlich beeindruckende Weitsicht, philosophisch und psychologisch hingegen eher Enge. Und das, obgleich San Marino erfreulicherweise von keinem Adelsgeschlecht abhängig ist.


© Raymond Walden