Leipzig,
8.9.2018, Thomaskirche, Thomanerchor, Motette
An
denkwürdigem Ort herausragend musikalischen Wirkens tief religiöser
Empfindungen erfreue ich mich an erlesenster Musik und ihrer
Darbietung, ich, ein von jeder Religion Befreiter, in der
Thomaskirche zu Leipzig.
„Motette“
(geistlicher Chorgesang) nennt sich die weltberühmte Veranstaltung
mit dem ebenso legendären Thomanerchor, in diesem Fall unter
Mitwirkung von Solisten und Musikern des nicht minder hochkarätigen
Gewandhaus Orchesters Leipzig.
Keineswegs
überrascht der gottesdienstliche Charakter mit Lesung aus dem
Evangelium, mit „Gemeindegesang“, mit Ansprache (Predigt), mit
Vater-unser-Gebet und Segen. Alles sicher im Geiste des Komponisten,
Johann Sebastian Bachs.
Mich
beeindruckt die Musik, das Werk und nicht die religiöse Motivation
des Urhebers. Und ich frage mich schon, welchen Einfluss derartig
anrührende Musik einerseits und die gesungenen, für mich abstrusen
Textinhalte andererseits auf die Entwicklung der Kinder und
Jugendlichen als Chormitglieder wohl haben. Denn der Chor bedeutet
für die jungen Sänger äußerst kontrolliertes Engagement während
wesentlicher Lebenszeit.
Von
der Empore aus beobachte ich das Publikum in der voll besetzten
Kirche. Längst nicht alle Zuhörer singen das Gemeindelied mit „Wer
nur den lieben Gott lässt walten“.
Es
sind offensichtlich nicht wenige, die einzig wegen der Musik gekommen
sind und kein Wort davon glauben, was so kunstvoll vertont ist.
Leipzig
am Folgetag, 9.9.2018, Gewandhaus, „Leipzig singt“: Antonin
Dvorak, „Stabat Mater“
„Es
stand die Mutter voll Schmerzen beim Kreuz ...“, ein monumentales
Werk des tschechischen Komponisten über den Schmerz der
„Gottesmutter“, emphatisch gesteigert in Dvoraks eigenem Schmerz
durch den Verlust dreier seiner Kinder in kurzer Reihenfolge.
„Gänsehaut“
überzieht den Zuhörer, wenn das volle Orchester, vier
Gesangssolisten und eine Chorzusammensetzung von 500 Stimmen das
unsägliche Leid im Pianissimo verinnerlichen oder im verzweifelten
Fortissimo in die Welt hinaus „schreien“.
Dankbarkeit
und Demut stellen sich ein ob solchen kulturellen Reichtums in einer
Gegenwart, die immer lauter, banaler und oberflächlicher daherkommt.
Und
wieder folge ich nicht den religiösen Inhalten, die ich in diesem
Szenario sogar für „süchtig nach Leid“, für
selbstzerstörerisch und masochistisch erachte, in des Wortes
gesungener „Trunkenheit nach Leidensteilhabe“. Schon gar nicht
schließe ich mich dem in endloser Wiederholung zum Himmel hinauf
donnernden „Amen“ in dem Wunsch nach paradiesischer Herrlichkeit
an.
Die
Organisatoren von „Leipzig singt“ schreiben: „Die Musik bringt
Trauer und Betroffenheit, Qualen und Schmerz zum Ausdruck … Es ist
jedoch auch ein Werk der Anteilnahme … Ob wir nun an Gott glauben
oder nicht, Werte wie Dankbarkeit und Anteilnahme sind menschliche
Werte.“
(Quelle:
Leipzig singt UG, Michael-Kazmierczak-Str.2 * 04157 Leipzig, 8.
Mitsingkonzert, Programmheft)
Dieser
Sichtweise schließe ich mich gerne an, denn religiöse Hymnen tragen
für den aufgeklärten Menschen kaum einen Konfliktstoff, sondern
vermitteln Erbauung und Kunstgenuss in der ganz diesseitigen,
intellektuellen und emotionalen Welt. Sie sind ein Hymnus auf reale
Lebenstiefe, auf eine märchenhafte und ganz konkrete Wirklichkeit.