Sonntag, 1. März 2020

Menschliches Glauben: Auflösung des "politischen Altenheims"? (S. 68)


Mai 1997

Der natürliche Prozess des Älterwerdens trägt zwei gegensätzliche Merkmale: Reifung und Stagnation. Glücklicherweise sind diese individuell unterschiedlich ausgeprägt, sodass die geistige Leistungsfähigkeit eines Betagten in Erfahrung und Beweglichkeit der eines Jüngeren weit überlegen sein kann. Fast immer werden geistige Aktivitäten im Alter bestimmt durch wesentliche Grundhaltungen, die sich in jungen Jahren eingefahren haben. Religiöse Denkmuster, vorzugsweise in der Jugend eingeimpft, im besten Alter kaum hinterfragt, werden im fortschreitenden Alter so gut wie nie geändert, das heißt, trotz lebendiger Intelligenz besteht die Gefahr des Erstarrens, was angesichts des allgemeinen Fortschritts sogar zum Rückschritt entarten kann. Damit ist nicht der geistige Verfall gemeint, der sowieso bei den meisten Menschen im Alter irgendwann einsetzt.
     Der weise Alte ist also eher eine Ausnahme oder umgekehrt: Es ist offensichtlich, dass das Alter nicht automatisch Klugheit herbeizaubert. Dies ist bei aller Achtung vor dem Alter zu berücksichtigen, und zwar besonders bei der öffentlichen Ämterbesetzung.
     Man darf nun gespannt sein, ob die frisch an die Macht gelangten britischen Labour-Sozialisten Ernst machen mit der Weiterverfolgung der im Wahlkampf aufgekochten Diskussion über das House of Lords, das zu zwei Dritteln aus Mitgliedern mir ererbtem Mandat besteht und zu einem Drittel aus Geadelten mit auf Lebenszeit verliehenem Stimmrecht. Wenn man sich das vor Augen führt, erkennt man die geballte konservative Absicherung des britischen Staatssystems.
     Aber die Alterseinfalt dümpelt weltweit; denken wir nur an das Papsttum, an die religiösen Führer des Islams, an Mobutu in Zaire und so weiter. Jugend, Fortschritt und Aufklärung leiden unter dieser Art der Vergreisung.


© Raymond Walden




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