Mai
1997
Der
natürliche Prozess des Älterwerdens trägt zwei gegensätzliche
Merkmale: Reifung und Stagnation. Glücklicherweise sind diese
individuell unterschiedlich ausgeprägt, sodass die geistige
Leistungsfähigkeit eines Betagten in Erfahrung und Beweglichkeit der
eines Jüngeren weit überlegen sein kann. Fast immer werden
geistige Aktivitäten im Alter bestimmt durch wesentliche
Grundhaltungen, die sich in jungen Jahren eingefahren haben.
Religiöse Denkmuster, vorzugsweise in der Jugend eingeimpft, im
besten Alter kaum hinterfragt, werden im fortschreitenden Alter so
gut wie nie geändert, das heißt, trotz lebendiger Intelligenz
besteht die Gefahr des Erstarrens, was angesichts des allgemeinen
Fortschritts sogar zum Rückschritt entarten kann. Damit ist nicht
der geistige Verfall gemeint, der sowieso bei den meisten Menschen im
Alter irgendwann einsetzt.
Der
weise Alte ist also eher eine Ausnahme oder umgekehrt: Es ist
offensichtlich, dass das Alter nicht automatisch Klugheit
herbeizaubert. Dies ist bei aller Achtung vor dem Alter zu
berücksichtigen, und zwar besonders bei der öffentlichen
Ämterbesetzung.
Man
darf nun gespannt sein, ob die frisch an die Macht gelangten
britischen Labour-Sozialisten Ernst machen mit der Weiterverfolgung
der im Wahlkampf aufgekochten Diskussion über das House of Lords,
das zu zwei Dritteln aus Mitgliedern mir ererbtem Mandat besteht und
zu einem Drittel aus Geadelten mit auf Lebenszeit verliehenem
Stimmrecht. Wenn man sich das vor Augen führt, erkennt man die
geballte konservative Absicherung des britischen Staatssystems.
Aber
die Alterseinfalt dümpelt weltweit; denken wir nur an das Papsttum,
an die religiösen Führer des Islams, an Mobutu in Zaire und so
weiter. Jugend, Fortschritt und Aufklärung leiden unter dieser Art
der Vergreisung.
©
Raymond Walden
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