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Dienstag, 18. September 2018

Hymnen des realen Lebens

Leipzig, 8.9.2018, Thomaskirche, Thomanerchor, Motette

An denkwürdigem Ort herausragend musikalischen Wirkens tief religiöser Empfindungen erfreue ich mich an erlesenster Musik und ihrer Darbietung, ich, ein von jeder Religion Befreiter, in der Thomaskirche zu Leipzig.
Motette“ (geistlicher Chorgesang) nennt sich die weltberühmte Veranstaltung mit dem ebenso legendären Thomanerchor, in diesem Fall unter Mitwirkung von Solisten und Musikern des nicht minder hochkarätigen Gewandhaus Orchesters Leipzig.

Keineswegs überrascht der gottesdienstliche Charakter mit Lesung aus dem Evangelium, mit „Gemeindegesang“, mit Ansprache (Predigt), mit Vater-unser-Gebet und Segen. Alles sicher im Geiste des Komponisten, Johann Sebastian Bachs.
Mich beeindruckt die Musik, das Werk und nicht die religiöse Motivation des Urhebers. Und ich frage mich schon, welchen Einfluss derartig anrührende Musik einerseits und die gesungenen, für mich abstrusen Textinhalte andererseits auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen als Chormitglieder wohl haben. Denn der Chor bedeutet für die jungen Sänger äußerst kontrolliertes Engagement während wesentlicher Lebenszeit.

Von der Empore aus beobachte ich das Publikum in der voll besetzten Kirche. Längst nicht alle Zuhörer singen das Gemeindelied mit „Wer nur den lieben Gott lässt walten“.
Es sind offensichtlich nicht wenige, die einzig wegen der Musik gekommen sind und kein Wort davon glauben, was so kunstvoll vertont ist.

Leipzig am Folgetag, 9.9.2018, Gewandhaus, „Leipzig singt“: Antonin Dvorak, „Stabat Mater“

Es stand die Mutter voll Schmerzen beim Kreuz ...“, ein monumentales Werk des tschechischen Komponisten über den Schmerz der „Gottesmutter“, emphatisch gesteigert in Dvoraks eigenem Schmerz durch den Verlust dreier seiner Kinder in kurzer Reihenfolge.

Gänsehaut“ überzieht den Zuhörer, wenn das volle Orchester, vier Gesangssolisten und eine Chorzusammensetzung von 500 Stimmen das unsägliche Leid im Pianissimo verinnerlichen oder im verzweifelten Fortissimo in die Welt hinaus „schreien“.
Dankbarkeit und Demut stellen sich ein ob solchen kulturellen Reichtums in einer Gegenwart, die immer lauter, banaler und oberflächlicher daherkommt.
Und wieder folge ich nicht den religiösen Inhalten, die ich in diesem Szenario sogar für „süchtig nach Leid“, für selbstzerstörerisch und masochistisch erachte, in des Wortes gesungener „Trunkenheit nach Leidensteilhabe“. Schon gar nicht schließe ich mich dem in endloser Wiederholung zum Himmel hinauf donnernden „Amen“ in dem Wunsch nach paradiesischer Herrlichkeit an.

Die Organisatoren von „Leipzig singt“ schreiben: „Die Musik bringt Trauer und Betroffenheit, Qualen und Schmerz zum Ausdruck … Es ist jedoch auch ein Werk der Anteilnahme … Ob wir nun an Gott glauben oder nicht, Werte wie Dankbarkeit und Anteilnahme sind menschliche Werte.“
(Quelle: Leipzig singt UG, Michael-Kazmierczak-Str.2 * 04157 Leipzig, 8. Mitsingkonzert, Programmheft)
Dieser Sichtweise schließe ich mich gerne an, denn religiöse Hymnen tragen für den aufgeklärten Menschen kaum einen Konfliktstoff, sondern vermitteln Erbauung und Kunstgenuss in der ganz diesseitigen, intellektuellen und emotionalen Welt. Sie sind ein Hymnus auf reale Lebenstiefe, auf eine märchenhafte und ganz konkrete Wirklichkeit.