Sonntag, 23. Februar 2020

Menschliches Glauben: Zwei einengende Weiten (S. 63)


Oktober 1996

Noch nie habe ich so viele wirklich dicke, direkt unförmige Menschen gesehen; noch nie habe ich die Medien so ausschließlich auf das eigene Land fokussiert erlebt; nirgends haben sich mir Kirchen- und Sektenzentren so massiert aufgedrängt, während unmittelbar nebenan die Götter Menschen in unsäglichem Elend dahinsterben lassen.
     Unmissverständlich und gravierend vermitteln Kanada und die USA das Prinzip der potemkinschen Oberflächlichkeit oder, anders gesagt, das Hohlmaß des clintonschen „Cheese“-Lächelns über sämtliche Probleme hinweg. Kanada habe ich vor 25 Jahren erstmalig bereist; damals registrierte ich jedenfalls kein auffälliges Zu-fett-Sein der Menschen, heute sagen mir Einheimische, die wirklich zahlreichen deformierten Körper seinen auch ein Ausdruck der allenthalben in Kanada zu erlebenden Verschwendungssucht. Aber in den USA ist man mit diesen unappetitlichen Anblicke noch häufiger konfrontiert! Jeder einigermaßen zum Denken veranlagte Mensch erkennt die Ursachen sofort. Die Weite des Landes mit entsprechend dünner Besiedelung erzeugt einen für global empfindende Menschen geradezu unerträglich kleinkarierten Provinzialismus, der sich natürlich auch in den Medien dokumentiert. Teilweise bestehen die Hauptnachrichten aus halbstündigen Berichten über lokale Kriminalität, dann folgen einige recht patriotisch eingefärbte Inlandsmeldungen und das Wetter, danach vielleicht noch zwei Nachrichten, die weltweit von Interesse sind. Katastrophen, wo auch immer geschehen, werden allerdings gleich als Schlagzeilen geliefert.
     Auf den Menschen vor Ort färbt das gleichermaßen ab, ob er in den Ghettos von Los Angeles („wo auch bei Tageslicht kein Tourist etwas zu suchen hat“) oder am Highway durch die Mojave-Wüste verhungert – oder ob er Riesengewinne einstreicht: Die Masse lebt in des Wortes doppelter Bedeutung in wüsten Verhältnissen. Der Reichtum der Wolkenkratzereigner sagt: „Life is short. – Spend it shopping.“ (TV-Spot). Und die Herde der Kopflosen geht einkaufen; täglich Fastfood, Cola und Chips. Regelmäßig zu kochen stellt für viele Amerikaner bereits eine Überforderung dar. Und so werden viele übermäßig dick durch ungesunde Ernährung, aber auch aus Kummer über ein Leben in grenzenloser Weite, das durch die religiöse Doppelmoral, die nicht zuletzt zu einer Sektenüberflutung geführt hat, Schuldbewusstsein erzeugt, das ein durch das mangelhafte amerikanische Bildungssystem Geschädigter kaum je überwinden kann. Ganz im Gegenteil; der Sumpf macht selbst vor der Wüste nicht halt.


© Raymond Walden



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