Sonntag, 5. Januar 2020

Menschliches Glauben: Sonnenaufgang (S. 33)

November 2001

Lange schon bevor die Sonne die ersten Strahlen über den Horizont in den neuen Tag schickt, weicht die Nacht der Dämmerung. Der Osthorizont gewinnt an Helligkeit, denn die Lichtfülle unseres noch unsichtbaren Tagesgestirns wird durch die Atome und Moleküle der Erdatmosphäre zunehmend gestreut. Ganz besonders gilt dies für den kurzwelligen blauen Lichtanteil, sodass sich für uns der wolkenlose Himmel im majestätischen Blau aufbaut. Schwebstoffe, etwa winzige Wassertröpfchen oder Staub, lassen vorzugsweise den langwelligen roten Part des Lichtspektrums passieren und wir erleben ein Morgenrot, das den Moment des ersten Sonnenstrahls verzaubert. Ganz plötzlich ist dann der westliche Sonnenrand da, steigt unaufhaltsam auf, gibt mehr und mehr vom Sonnenkörper frei. 1,4 Mio. Kilometer Sonnendurchmesser besetzen scheinbar nur einen halben Grad am Himmel; es dauert wenige Minuten bis die Sonne sich im vollen Glanz zeigt. Auch ihre Farbabstufung unterliegt dem optischen Verhalten der Erdenluft, horizontnah tiefrot, das obere Sonnensegment schon gelblich. Darüber hinaus prägt die Luft auch die Sonnenform, denn die horizontnahen Lichtstrahlen werden stärker gebrochen als die oberen Randstrahlen der Sonne. Die Unterkante unseres nächsten Sterns, nichts anderes ist die Sonne, erfährt eine scheinbare Anhebung, wodurch der Kugel ein ellipsoides Aussehen verliehen wird. Bald ist das Licht so hell, dass es unsere Augen überfordert, denn unaufhaltsam rotiert die Erde weiter Richtung Osten, lässt die Sonne immer weiter westlich von meinem geografischen Standort aufgehen.
     Ein neuer Tag in meinem Leben hat begonnen. Was werde ich alles durch das Licht sehen, was erkennen? Wie viel Leben wird die Kraft der Sonne speisen, wie viel ausdörren, gar versengen? Wie sähe eine intelligente Sonne uns Menschen in all den Ländern und Kontinenten? Mag sich die Sonne jetzt vor mir im Wasser des Ozeans spiegeln, mag sie Bergkuppen vergolden, eine Wiese, einen Waldrand überfluten, ein Häusermeer erhellen: Sie trifft mich; dies ist unser Tag!



© Raymond Walden 


 


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