Montag, 6. Januar 2020

Menschliches Glauben: Mondimpressionen (S. 34)


November 2001

Wer nicht verlernt hat, auch die Faszination toter Materie zu genießen, mag nachvollziehen, warum der Mond uns Menschen gefangen nimmt. Ich rede nicht von esoterischen Schwärmereien, vielmehr von Erfahrungen, gesammelt etwa am Kraterschlund des Ätna, angesichts der Landschaftsformationen um Las Vegas, bestätigt durch den scharfen Fallwind auf der Südflanke Kretas oder durch die bizarre, Ewigkeit vortäuschende Vulkankomposition Gran Canaria; die Erde ist übersät mit derartigen Naturdokumenten.
     Und der Mond präsentiert sich nicht anders: für unabsehbare Zukunft schroff, schön und tot. Kein Stein besitzt Gefühle, noch ein Bewusstsein, aber er kann dadurch beeindrucken, dass er quasi unsterblich ist, existent über Jahrmillionen, einfach da, während wir so schnell altern und sinnvollerweise vergehen. Denn was wäre versteinerte Menschlichkeit?
     Wir unterliegen einem viel kürzeren Werdegang, der ja Leben erst ausmacht, und so betrachten wir den leblosen Mond mit Emotionen. Er ist unser bestens vertrauter kosmischer Nachbar und dennoch so fern. Auf alle unsere subjektiven Interpretationen hin schweigt er, es sei denn, wir öffnen uns, die leblose Materie bestaunend, die dann in den Licht-Schatten-Spielen des Erdtrabanten so viel Erhabenheit ausstrahlt.
     Die Sonne beleuchtet immer nur eine Hälfte des dunklen Körpers. Wir verbinden mit der Abfolge der Mondphasen sogar unseren irdischen Monat, ein Zeitmaß, letztlich einen Sektor unserer persönlichen Lebensspanne. – Der zunehmende Mond folgt nach Sonnenuntergang am Abendhimmel mit dem bekannten täglichen Gewinn an Lichtgestalt. Besonders am Zyklusanfang schimmert die unbeleuchtete Mondregion aschgrau, denn die Mondnacht wird durch eine „Vollerde“ erhellt. Unser Heimatplanet reflektiert Sonnenlicht zum Mond, von wo aus ein geringer Teil wieder zur Erde geworfen wird. Der Vollmond steht der Sonne diametral gegenüber, am höchsten um Mitternacht zur Zeit des tiefsten Sonnenorts unter dem Horizont. Als abnehmender Mond beleuchtet der Trabant die zweite Nachthälfte, täglich schmaler, bis er sich als Neumond am Taghimmel zur Sonne gesellt.
     Gerade einmal sieben Prozent des auftreffenden Sonnenlichts wirft der Mond zurück, und diese bescheidene Menge wird besonders in Horizontnähe durch die Erdatmosphäre weiter gedimmt, indem vor allem das blaue Licht je nach Feuchtigkeits - und Schwebstoffgehalt der Luft absorbiert und gestreut wird, sodass der Mond im langwelligen rötlichen Spektralbereich romantisch erscheint. Auch für die scheinbare Vergrößerung des Mondes in Horizontnähe ist die irdische Luft maßgeblich, sie wirkt gegenüber dem kosmischen Vakuum wie eine Linse und zusätzlich mischen sich psychologisch bedingte persönliche Sehgewohnheiten in das Bild vom Mond.
     Übrigens steht der Sommervollmond immer tiefer als der Wintervollmond, und, wie schon erwähnt, der Sonne diametral gegenüber. Also: hohe Sommersonne – tiefer Vollmond, flache Wintersonne – steiler Vollmond. Ebbe und Flut erzeugt der Mond im Zusammenspiel mit der Sonne unmittelbar durch Gravitation auf die Wassermassen während des Erdumlaufs. Der gemeinsame Schwerpunkt des Doppelplaneten Erde-Mond liegt aufgrund der geringen Mondmasse innerhalb des Erdkörpers, jedoch nicht im Erdmittelpunkt. Demzufolge webt die Erde ihre Bahn um die Sonne um diesen Schwerpunkt, was in geringerem Maße ebenfalls zum Schwappen der Ozeane im entsprechenden Rhythmus beiträgt. Dem Kommen und Gehen der Wassermassen haben sich in zahlreichen Küstenregionen biologische Zyklen angepasst, zum Beispiel solche der Fortpflanzung. Das menschliche Leben ist jedoch viel komplexer, als dass es lunaren Gezeiten folgen würde. So können wir den Mond befreit betrachten, uns hingeben der persönlichen Stimmung, ohne Mondsüchtigkeit und Deutungsschwere, man gönne sich die Zeit!
     An irdischen Markierungen wie dem Horizont, den Bäumen, Bergen, Gebäuden lässt sich die stetige Ostwestbewegung des Mondes als Ergebnis der Erddrehung verfolgen. Bei geduldigem, genauen Hinsehen, gar durch ein Fernglas, bemerkt man die Eigenbewegung des Mondes vor dem Sternenhintergrund als Ausdruck des Umlaufs um die Erde in Westostrichtung. Dabei kann es zu Stern-, seltener Planetenbedeckungen kommen: Der im Mittel 384.400 km von uns entfernte Mond schiebt sich vor einen Stern, der Lichtjahre tief im Universum residiert. Ganz plötzlich erlischt nun scheinbar der Stern am lunaren Ostrand, um nach dem Vorbeizug des Erdtrabanten an seinem Westrand wieder unvermittelt aufzutauchen. Es gibt keine Mondatmosphäre, die das Sternenlicht schwächt, daher das abrupte Verlöschen und Wiedererstrahlen. Durchschnittlich in einer Stunde wandert der Mond am Himmel um seinen eigenen Durchmesser weiter, etwa 0.5 Grad in östliche Richtung. – Für den intelligenten Menschen lässt sich die Diskussion über die Bedeutung des Mondes nicht auf Boulevard-Niveau führen.
     Das Auge nimmt sich die Zeit, mir die Weite des kalten Himmels zu vermitteln, eines Himmels, der dennoch in seiner blauschwarzen Unergründlichkeit Wärme, ja sogar Geborgenheit erzeugen kann. Ich bin eins mit der Weite, als Teil des Kosmos hier zu Hause.
     Wie zernarbt, faltig und trotzdem glatt der Mond aussieht! 150 Grad Celsius Hitze auf seiner Taghälfte und fast ebenso viele Grad Frost in der Mondnacht haben die Oberfläche gegerbt, die zusätzlich einem fortwährenden Bombardement von Meteoriten schutzlos ausgebreitet ist. Welch eine Oase dagegen unsere Erde, die jegliches Leben vor derartig feindlicher Schönheit schützt.
     Der Mond, er „geht so stille“, auch ich werde still, will jetzt nichts sagen. Und wenn mich gerade ein lieber Mensch hier oder fern in meiner Betrachtung begleitet, ist für diesen Augenblick unseres Daseins alles gesagt.


© Raymond Walden 


 

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