Samstag, 28. Dezember 2019

Menschliches Glauben: Das Glück zu reisen (S.26)


Mai 1998

Gedanken wurzeln in Traditionen und Herkunft, sie fliegen in Hektik und Raffgier, sie schweben in Träumen und Visionen, aber sie befreien sich, so ein Reisender denkt, ein Denkender reist. Dies meint nicht das bekannte Sprichwort „Reisen bildet“, sondern das Umschalten aus provinziellen oder urbanen Zwängen auf Eventualitäten, die in der modernen Zeit bis zu einem gewissen Grad kalkulierbar sind, aber letztlich immer eine Herausforderung in sich bergen. Freilich ist durch die Berechenbarkeit das Reisen für den Menschen von heute gegenüber früheren Generationen zur hellen Freude geworden. – Daher ja auch der Massentourismus, der dann aber wegen seiner Stupidität sofort in Nervenbelastung umschlägt.
     „Wie man sich bettet, so schläft man“ besitzt eine übertragbare Wahrheit: „Wie man seine Erwartungen begründet und die Wege plant, so ist die Lebensqualität während und nach der Reise“. Das bezieht sich zunächst vordergründig auf die Reiseroute, gilt aber viel gravierender für das gesamte Umfeld. Ich habe bisher das Glück gehabt, häufig und auch weit zu reisen; „Erhebet die Herzen“, heißt es an einer Stelle der katholischen Messfeier, an die ich mich erinnere, weil ich als Kind in die katholische Gemeinschaft eingebettet war. Heute weiß ich, dass dieser liturgische Schnickschnack nichts bedeutet gegenüber dem wirklichen Erleben dieser Erde, mit ihren Klima- und Kulturzonen, und nichts ist erbaulicher, als mit Überblick und Verständnis die jeweiligen lokalen Vorgänge annähernd, auch historisch, zu begreifen, ohne in diese wie auch immer verwickelt zu sein. Gedankenfreiheit kann erst zu einer solchen werden, hat sie das Wesen möglichst vieler Regionen „erfahren“. Literatur und andere geistige Quellen können in seltensten Fällen in Konkurrenz mit der konkreten Reise treten, wohl aber profitiert die Reise von zuvor angelesenem Wissen.
     All jenen stetig Nörgelnden, die da meinen, zu reisen sei ein Faktor der Umweltzerstörung, könnte man vielleicht entgegnen, dass bestimmte touristische Wachstumsbranchen neben der Landschaft auch den Geist (so überhaupt noch vorhanden) schädigen, doch würde dies zu einer Diskussion über die Mündigkeit der dumpfen Masse führen, die nicht reist, die verfrachtet wird, weil sie es in ihrem Unvermögen gar nicht anders erwartet. Echtes Reisen meint ja auch innehalten, verweilen, wird dadurch alles andere als mondän, gar überheblich. Wie auch immer – zu reisen meint weitverzweigte Verwurzelung des Ichs, schöner noch des Wirs, meint das extensive Erleben des Hier und Jetzt, eingewoben in die eigene Geschichtlichkeit, aufgebrochen, um der Zukunft etwas gewachsen zu sein, denn sie ist zwar begrenzt, ungewiss, hält letztlich aber für jeden den Tod bereit – am Ende aller Reisen.


© Raymond Walden



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